Die Moralisten
ändern, bevor ich ans Ende komme.«
»Aber nicht dich selbst«, erwiderte er rasch. Er drehte den Hebel herum, durch den das Tor geöffnet wurde. »Wohin gehst du?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Zunächst nehme ich mir ein Zimmer in einem Hotel und setze mich zwei Stunden lang in eine Badewanne, ohne daß mich jemand herausholen kann. Dann werde ich mir einige Kleider kaufen, die mir gefallen. Ich kann nicht mehr in diesem Zeug herumlaufen. Danach werde ich mir ein großes Essen leisten und hinterher in ein Kino gehen, vielleicht ins Radio City. Dann spendiere ich mir zwei Eis, gehe ins Hotel und schlafe bis morgen nachmittag.«
»Und danach? Was tust du dann?« fragte er.
»Ich suche mir eine Stelle und fange an zu arbeiten.«
»Tu das als erstes«, riet er ihr. »Vielleicht wirst du dein Geld noch brauchen.« Das eiserne Tor war nun offen, und er machte eine auffordernde Handbewegung. »Deine Welt erwartet dich, Marja. Ich hoffe, sie ist gut zu dir.«
Sie trat zögernd auf das Tor zu und wandte sich dann zu dem alten Mann um. Rasch küßte sie ihn auf die Wange. »Auf Wiedersehen, Großväterchen.«
»Auf Wiedersehen, Marja«, sagte er, und es lag unerwartete Traurigkeit in seiner Stimme.
Es fiel ihr auf, und sie blickte in die Augen des Alten. »Sie sind der einzige hier, der mir fehlen wird. Großväterchen.«
»Schon gut«, meinte er etwas rauh und verlegen. »Ich wette, das erzählst du allen Männern.«
Ein schelmisches Lächeln erschien um ihre Lippen. »Nein, Großväterchen, nur Ihnen.«
Impulsiv küßte sie ihn nochmals auf die Wange. »Ich danke Ihnen.« Sie drehte sich um und ging durch das Tor.
»Sei brav, Marja«, rief er ihr nach.
Noch einmal sah sie sich zu ihm um. »Ich will es versuchen«, rief sie lachend. Klirrend fiel das Tor. hinter ihr ins Schloß. Sie trat auf die Straße hinaus. Sie ging über den Bürgersteig bis zum Rinnstein, blickte zu Boden und stampfte mit ihrem Absatz auf der Straße auf. Dieses Aufstampfen klang dumpf, der Boden mutete seltsam weich an. Asphalt und kein Beton. Betonböden klangen ganz anders unter den Füßen und gaben nicht nach. Dort hinter ihr war alles aus Beton. Auf den Gängen und auf den Wegen draußen. Man hörte sich selber, wohin man auch ging. Hier aber war alles gedämpft. Glücklich schritt sie den Rinnstein entlang. Sie war frei, wirklich frei.
Eine starke Hand schloß sich um die ihre, in der sie den Handkoffer trug, und eine vertraute Stimme sagte zu ihr: »Wenn du eine Straße so entlanggehst, kannst du bald tot sein. Hast du die Autos vergessen?«
Ohne aufzublicken, wußte sie, wer es war. Sie hatte ihn von dem Augenblick an, als sie durch das Tor hinaustrat, erwartet. Nun sah sie langsam auf und hielt noch immer ihren Handkoffer fest. Ihre Stimme war ebenso ausdruckslos wie ihre Augen.
»Man vergißt vieles in anderthalb Jahren, Mike.«
Ein nervöses Lächeln zuckte in Mikes Gesicht auf. »Ich bin hier, um dich mit nach Hause zu nehmen, Marja.«
Sie antwortete nicht.
»Ich habe den ganzen Vormittag gewartet.«
Sie holte tief Atem und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Nein.«
Sie sah den Schmerz in seinen Augen erwachen. »Aber Marja, ich ...«
Sie riß den Handkoffer wieder an sich. »Du hast dir das falsche Mädchen ausgesucht, Mike. Alles hat sich verändert, sogar der Name.«
»Es ist mir egal, was sich verändert hat, Marja. Und ich kümmere mich nicht um das, was geschehen ist. Du hast zwar niemals meine Briefe beantwortet, aber jetzt bin ich hier, um dich mitzunehmen.«
Sie trat wieder auf den Bürgersteig und blickte ihm in die Augen. »Wer hat dich geschickt?« fragte sie abweisend.
Seine Augen starrten in die ihren. »Ich liebe dich, Marja. Und du hast auch einmal gesagt, daß du mich liebst.«
»Damals waren wir noch Kinder«, entgegnete sie rasch. »Damals hatten wir noch keine Ahnung.«
»Kinder!« rief er zornig. »Wieviel älter bist du denn heute? Können zwei Jahre soviel ausmachen?«
»Ja, Mike«, erwiderte sie langsam, »zwei Jahre können wie tausend Jahre sein. Ich bin sehr schnell erwachsen geworden.«
»Auch ich bin erwachsen geworden«, antwortete er fast jungenhaft, »aber dir gegenüber empfinde ich noch immer dasselbe. Das wird immer so sein.«
»Ich nicht.«
»Was hat man dir getan, Marja?« Tiefe Angst klang in seiner Stimme auf.
Matt schüttelte sie den Kopf. »Nichts. Was geschehen ist, habe ich mir selber zuzuschreiben. Es ist vorbei, Mike. Wir können
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