Die Moralisten
näherte sich und nahm ihr den Koffer ab. Der Portier reichte ihm den Schlüssel. »Begleite Miß Flood auf Zimmer 1204.«
Sie wartete, bis sich die Tür hinter dem Boy geschlossen hatte. Dann warf sie sich aufs Bett. Genießerisch fühlte sie sich tief einsinken. Es war, als schwebte sie auf einer Wolke. Das war ein Bett, ein richtiges Bett, nicht eins von diesen sogenannten Betten, die man in der Anstalt hatte. Sie rollte sich über die ganze Breite des Bettes, sprang auf und öffnete die Tür zum Badezimmer.
Glänzendweiße Fliesen und schimmerndes Porzellan. Bewundernd betrachtete sie die Badewanne. Sie gehörte zu der neuen Art, die im Fußboden versenkt ist. Behutsam tastete sie die Wandungen ab. Glatt und nicht so rauh wie die alten Zinkwannen. Sie ließ ihre Hand auf dem Rand ruhen und blickte um sich.
Große Badetücher hingen über der Stange. Rasch nahm sie eines. Es war leicht, weich und flauschig. Sie begrub ihr Gesicht in ihm. Es war nicht so grob wie die Tücher aus Baumwolle. Sie atmete tief ein. Das war das Leben.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast Mittag. Sie mußte noch einige Einkäufe machen, bevor sie sich träge und lange ins Wasser legen durfte, wie sie es sich vorgenommen hatte. Fast widerstrebend hängte sie das Badetuch auf die Stange zurück und verließ das Badezimmer.
Sie nahm ihre Handtasche und öffnete sie. Wieder einmal zählte sie das Geld. Einhundertundachtzehn Dollar. Das war von dem Lohn übriggeblieben, den man ihr für ihre Arbeit in der Wäscherei gezahlt hatte. Einen Augenblick schüttelte sie den Kopf, als wollte sie sich von dem Dampf, dem bitteren Geruch der scharfen Seife und der Natriumhypochloridlauge befreien, die sie so lange umgeben hatten. Entschlossen ließ sie die Handtasche wieder zuschnappen und ging zur Tür.
Auf den Stufen des Hotels blieb sie stehen und blickte auf den Broadway hinab. Es war Mittagszeit, und auf den Straßen wimmelte es noch mehr von Menschen als üblich. Alle gingen irgendwohin. Die Menschen hatten gespannte, ernste Gesichter und nahmen sich nicht die Zeit, sich umzusehen. Mary wunderte sich über sie. Sie betrachteten so vieles als selbstverständlich, so vieles, was ihr niemals mehr als selbstverständlich erscheinen würde.
Sie sah die Straße entlang. Im Nedick auf der anderen Straßenseite herrschte großer Betrieb, die Gäste standen in drei Reihen hintereinander an der Theke. Das chinesische Restaurant zwischen der 42. und der 43. Straße bot noch immer einen Lunch zu 35 Cent an. Das Café Hector , dem Hotel gegenüber, machte noch immer mit der größten Kuchenauswahl der ganzen Stadt Reklame, und die leisen Klänge einer Kapelle aus dem Tanzlokal in der 45. Straße vermischten sich mit dem ohrenbetäubenden Lärm des Verkehrs.
Mit einem Gefühl der Zufriedenheit ging sie die Stufen hinunter, um mit ihren Einkäufen zu beginnen. In der Nähe gab es, wie sie wußte, einige Geschäfte, in denen sie Kleider und Wäsche ziemlich billig kaufen konnte. Sie summte vor sich hin, als sie die Straße überquerte. Sie hatte mit dem, was sie Großväterchen heute vormittag erzählt hatte, unrecht gehabt.
Sie war zu Hause.
Träge lehnte sie sich in der Badewanne zurück, während ein köstliches Gefühl der Mattigkeit sie durchzog. Das Wasser war mit schimmernden, platzenden Seifenblasen bedeckt, und in der Luft lag ein schwerer Duft. Sie bewegte sich ganz langsam und ließ die Hände über ihren Körper gleiten. Sie dachte an das Brennen der billigen Seife zurück, die sie in der Anstalt benutzt hatten. Nach ihrem Gebrauch hatte sie sich niemals wirklich sauber gefühlt. Es war immer so, als hätte sie eine rauhe Schicht auf ihrer Haut zurückgelassen. Das hier war etwas ganz anderes. Sie fühlte, wie ihre Haut im Wasser weich wurde.
Sie zog ein Tuch von der Stange neben der Badewanne und faltete es zu einem kleinen Kissen. Sorgfältig legte sie es auf den Rand der Wanne und lehnte sich zurück. Sie schloß die Augen. Sie fühlte sich warm, wohl und sicher. Niemand konnte ihr sagen, was sie zu tun hatte. Sie begann einzuschlummern. Es war ganz anders als in der Anstalt.
Und ganz anders als damals, als das Kind geboren wurde.
Fast den ganzen Vormittag hatte sie heftige Schmerzen gehabt. Schließlich hatte die Schwester sie in die Krankenstation hinuntergebracht. Der Arzt hatte sie rasch untersucht und dann der Schwester zugenickt. »Machen Sie sie fertig. Jetzt dauert es nicht mehr lange.«
Stöhnend hatte sie sich auf
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