Die Moralisten
bei ihren nächsten Worten begriff die Frau, daß sie es wirklich nicht wußte. »Es hat nicht so weh getan, wie sein Vater mir weh getan hat. Aber so, wie es einem weh tut, wenn man etwas bekommt, von dem man genau weiß, daß man es nicht behalten kann.«
Plötzlich verstand die Frau. Es fiel ihr nun wieder ein, was dieses Mädchen hierhergeführt hatte. Ihre Augen hinter der Brille waren von Mitleid erfüllt. Nun erkannte sie in den Augen des Mädchens das ganze Ausmaß des Schmerzes.
Sie sahen einander eine flüchtige Sekunde lang tief in die Augen. Dann sprach Mary erneut. Ihre Stimme klang nun sanft. »Geben Sie es weg.«
Fast ohne sich dessen bewußt zu werden, nickte die Frau zustimmend. »Ja, Mary.«
Nun quollen die Tränen ungehemmt aus Marys Augen hervor und rannen über ihre Wangen. Sie weinte lautlos.
3
Der Kriminalbeamte war ein schlanker, höflicher Mann. Er schob ihr sogar den Stuhl hin, als sie sich vor seinem Schreibtisch hinsetzte. Er sah sie einen Augenblick lang forschend an, ehe er seinen Platz hinter dem Schreibtisch einnahm. Es ging etwas Besonderes von ihr aus.
Sie hatte nichts Gewöhnliches an sich. Sogar das goldblonde Haar, das manche so flittchenhaft wirken ließ, stand ihr. Aber ihr Gesicht, ihr Körper, die Art, in der sie sich bewegte - das alles verriet: sie war eine Frau. Eine von der Art, die für Männer geschaffen ist.
Er warf einen Blick auf die Karteikarte auf seinem Tisch. Mary Flood. Seine Augen weiteten sich. Jetzt verstand er. Er sah sie an. »Wo wohnen Sie, Miß Flood?«
»Im Hotel Astor.« Ihre Stimme klang belegt. Sie nahm eine Zigarette heraus.
Rasch entzündete er ein Streichholz und hielt es ihr hin. Er glaubte, das Aufschimmern eines Lächelns in ihren dunkelbraunen Augen zu erkennen, als sie ihn über die Flamme hinweg ansah. Aber vielleicht hatte er sich auch geirrt. Kein Mädchen in diesem Alter konnte beim ersten Besuch bei der Polizei so selbstsicher sein. Wahrscheinlich war es nur der Widerschein des Lichtes gewesen. »Ziemlich teurer Spaß«, sagte er.
»Es ist ein Luxus, den ich mir selber versprochen hatte«, antwortete sie, als sei damit alles erklärt.
Wieder warf er einen Blick auf die Karteikarte. »Haben Sie schon eine Stellung gefunden?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin doch erst seit zwei Tagen draußen. Ich habe mich noch nicht einmal darum bemüht.«
»Meinen Sie nicht, Sie sollten es lieber tun?« fragte er freundlich. »Man findet heute ziemlich schwer etwas.«
»Ich werde mich umsehen«, versicherte sie.
»Sie können nicht mehr viel Geld übrig haben«, fuhr er fort. »Wie ich sehe, haben Sie sich auch neu eingekleidet.«
Zum erstenmal hatte ihre Stimme einen herausfordernden Ton. »Es ist mein Geld. Es gibt doch wohl keine Bestimmung, die mir verbietet, damit zu machen, was ich will. Oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Miß Flood. Wir wollen nur sichergehen, daß Sie nicht wieder in Schwierigkeiten geraten. Wenn man aber kein Geld mehr hat, ist das schnell geschehen.«
»Noch habe ich Geld.«
Er antwortete ihr nicht, sondern lehnte sich zurück und musterte sie still, während er sich eine Zigarette anzündete. Diesem Mädchen würde es nicht schwerfallen, Geld zu verdienen. Mary Floods Problem lag vielmehr darin, daß sie zu vielen Männern begegnen würde, die bereit wären, es ihr zu geben. Er wartete darauf, daß sie weitersprach. Das einzige, was diese Menschen nicht ertragen konnten, war längeres Schweigen.
Dieses Mädchen war anders. Sie saß nur da und beobachtete ihn, die Augen fest auf sein Gesicht gerichtet. Er räusperte sich.
»Sie kennen die Bestimmungen, Miß Flood«, sagte er. »Man hat Sie in der Anstalt entsprechend belehrt.«
Sie nickte.
Trotzdem wiederholte er sie ihr. »Sie haben sich jeden Monat hier zu melden. Sie haben jeden Verkehr und jede Verbindung mit Menschen, die im Strafregister stehen, zu meiden. Sie haben uns von jeder Änderung Ihrer Adresse zu unterrichten. Sie haben uns, sobald Sie eine Stellung haben, Ihren Arbeitsplatz zu melden. Sie dürfen nur mit unserer Erlaubnis den Staat verlassen. Sie dürfen keine Handfeuerwaffen oder ähnliche gefährliche Waffen besitzen ...« Verwundert hielt er inne. Sie lächelte. »Was finden Sie daran so komisch, Miß Flood?«
Sie war aufgestanden und ließ mit einem leichten Lächeln um ihre Lippen den Mantel von den Schultern auf den Stuhl fallen. Er hatte das Gefühl, als habe sie sich vor ihm nackt ausgezogen. »Finden Sie,
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