Die Moralisten
Brust unter dem Morgenmantel, aber sie entzog sich ihm geschickt. Noch immer lächelte sie. »Nicht jetzt«, sagte sie.
Er sah sie an. Der Mann hatte recht gehabt. »Gut«, erklärte er großmütig, »ich gebe Ihnen eine Stunde Zeit.«
»Danke«, antwortete sie kurz.
»Aber ziehen Sie es nicht so lange hin«, warnte er. »Die Polizei hier ist höllisch scharf auf Mietpreller. Vor allem, wenn es sich um Touristen handelt.«
Sie schloß die Tür hinter ihm und lauschte seinen Schritten, die sich den Gang entlang entfernten. Einen Augenblick blieb sie dort stehen und kehrte dann an ihren Tisch zurück. Sie griff zu ihrer Tasse und trank einen Schluck Kaffee, aber er war kalt geworden.
Sie zündete sich eine neue Zigarette an, trug die Kaffeekanne zum Herd zurück, blieb eine Weile dort stehen und blickte nachdenklich die Kaffeekanne an, die sich langsam wieder erwärmte. In ihrem tiefsten Innern hatte sie stets gewußt, daß das eines Tages geschehen würde. Früher oder später mußte sie ihre Entscheidung treffen.
Als der Kaffee wieder heiß war, trug sie ihn an den Tisch zurück und setzte sich. Hätte sie nur ein paar Kleider da, könnte sie verschwinden. Aber selbst wenn ihr das gelang, würde der Hauswart auf jeden Fall die Polizei benachrichtigen. Joe hatte gesagt, die Polizei hätte Wind bekommen. Vielleicht würde man sie dort als eine der beiden Partnerinnen in ihrer Nummer erkennen. Dann wäre alles nur noch schlimmer.
Sie trank von ihrem Kaffee und zündete sich eine neue Zigarette am Stummel der alten an. Ein verbittertes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Es war nicht so, als ob sie etwas zu verlieren hätte. Sie war keine Jungfrau mehr, die die unsichtbare Grenze zu verteidigen hatte. Und sie wußte auch, was sie zu tun hatte, damit ihr nichts passierte. Was einmal geschehen war, würde nicht wieder vorkommen. Auch das hatte sie in der Anstalt gelernt. Das also war kein Anlaß, um sich Sorgen zu machen. Dennoch - etwas hatte sie stets zurückgehalten.
In einem Gefühl tiefer Ermattung schloß sie die Augen. Darauf hatten es alle Männer abgesehen. Sie waren alle gleich. Sie wußte es. Früher hatte sie darüber gelacht. Für sie war es immer ein Spiel gewesen, festzustellen, wie weit sie mit ihnen gehen und trotzdem ungeschoren davonkommen konnte. Hätte es nur etwas in ihr gegeben, das diesem Begehren der Männer entsprach. Dann würde sie vielleicht anders empfinden. Aber nur in Mikes Nähe hatte sie Erregung verspürt.
Seltsam, daß sie jetzt an ihn dachte. Er schien ihr einer ganz anderen Welt anzugehören. Sie fragte sich, ob es Liebe war, die sie ihm gegenüber empfand, die für sie alles verändert hatte. Es mußte wohl so sein. Keinem anderen Mann gegenüber hatte sie jemals dasselbe empfunden.
Sie leerte ihre zweite Tasse Kaffee und sah auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde. Sie erhob sich und spülte Tasse und Untertasse ab. Langsam trocknete sie sie ab und stellte sie ordentlich aufs Regal zurück. Wieder setzte sie sich und blickte auf die Uhr. Noch zehn Minuten.
Sie zündete sich noch eine Zigarette an, während sie die Uhr anstarrte. Wenn sie nur etwas in ihrem Innern empfinden könnte. Irgend etwas. Und sei es Furcht. Aber nicht einmal die verspürte sie.
Nur die eisige Gewißheit, daß alles so hatte kommen müssen, daß es nur eine Frage der Zeit gewesen war.
Sie starrte noch immer die Uhr an, als es an der Tür klopfte. Sie erhob sich. »Herein«, rief sie.
Die Tür ging auf, und der Hauswirt erschien. Er zögerte einen Augenblick, betrat dann das Zimmer und schloß die Tür rasch hinter sich. Sein Gesicht glänzte vor Erregung. »Nun?« fragte er. Sie sah ihn gelassen an. Sie registrierte, daß er sich rasiert und ein sauberes Hemd angezogen hatte. Sie mußte lächeln. »Nun?« antwortete sie. »Bereit?« Er kam auf sie zu.
»Immer bereit«, erwiderte sie unwillkürlich, ihre Augen noch immer auf sein Gesicht gerichtet.
Seine Hände griffen nach ihr, und er riß sie grob an sich. Er küßte sie. Sie fühlte seine Zähne hart hinter seinen Lippen. Sie rührte sich nicht. Seine Hände bewegten sich schnell, und das Zerreißen ihres Morgenmantels drang wie aus großer Ferne zu ihr. In diesem Augenblick stieß sie ihn zurück.
Bedauernd blickte sie auf den zerrissenen Morgenmantel am Boden. Nun hatte sie nichts mehr anzuziehen. Sie sah ihm ins Gesicht. Er starrte sie an.
Sie zeigte auf die Schlafzimmertür. Jetzt lag alles klar vor ihr. Es hatte lange gedauert, aber nun
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