Die Moralisten
»Wird es lange dauern?«
Sie dachte einen Augenblick nach. »Lange nicht. Eine halbe Stunde, vielleicht eine Stunde.«
»Ich werde in der Bar sein. Sie werden mich leicht erkennen. Ich tröste mich inzwischen mit einem Martini.« »Ich komme, Mr. Paynter.«
»Früher haben Sie sich schon einmal zu Gordon durchgerungen«, sagte er lächelnd.
»Na gut, Gordon«, lachte sie, während sie den Fahrstuhl betrat. »Ich will versuchen, Sie nicht allzu lange warten zu lassen.«
Die Tür schloß sich hinter ihr, und der Fahrstuhlführer wandte sich ihr zu. »Freund oder Kunde?« fragte er neugierig.
»Drittes Stockwerk, Sie Neugieriger«, rief sie und hielt ihm den Dollar hin.
Grinsend nahm er ihn entgegen. »Geben Sie nicht auch mal Rabatt, Mary?«
Sie lächelte ihn an, als der Fahrstuhl hielt. »Das kann ich mir nicht leisten. Die Betriebskosten sind zu hoch.« Die Tür glitt auf, und sie trat hinaus.
»Vielleicht einmal an Ihrem freien Abend«, rief er hinter ihr her. »Sparen Sie lieber Ihr Geld, mein Freund«, rief sie über ihre Schulter zurück. »Ich habe keine freien Abende.«
Während sie den Gang entlangging, hörte sie die Tür hinter sich zugleiten. Vor Zimmer 311 angelangt, klopfte sie leise an.
Die Stimme eines Mannes war durch die Tür hindurch gedämpft zu vernehmen. »Wer ist da?«
Leise und dennoch laut genug, um durch die Tür hindurch gehört zu werden, antwortete sie: »Das Zimmermädchen.«
Als sie die Bar betrat, sah sie auf ihre Uhr. Eine dreiviertel Stunde war vergangen. Sie blieb stehen, um ihre Augen an das trübe Licht zu gewöhnen. Er saß ganz hinten in einer Nische, winkte ihr zu und erhob sich, als sie auf ihn zuging.
»Haben Sie Ihre Arbeit bekommen?« fragte er, als er einen Stuhl für sie zurückzog.
»In gewisser Weise«, antwortete sie und setzte sich.
Ein Kellner trat an den Tisch. »Noch einen Martini für mich«, bestellte Gordon. »Und Sie?«
Sie sah ihn an. »Cassis und Soda.«
»Wermut, Cassis und Soda«, wiederholte der Kellner. »Keinen Wermut«, verbesserte sie ihn. »Nur Cassis und Soda.« Als sich der Kellner entfernte, sagte Gordon: »Das ist ein seltsames Getränk.«
Sie begegnete seinem Blick. »Aber ich mag es so.«
»Sie sind auch ein seltsames Mädchen«, fuhr er fort und trank den Rest des Martinis, der vor ihm stand, aus.
Sie sah ihn scharf an. Vielleicht hatte ihn einer der Boys aufgeklärt. Sie sagte nichts.
»Sie sind niemals zurückgekommen, haben niemals angerufen. Nichts hat man von Ihnen gehört. Wäre ich Ihnen jetzt nicht zufällig begegnet, hätte ich Sie vielleicht nie wiedergesehen.«
»Vielleicht wäre das für Sie besser gewesen«, erwiderte sie ernst. Er kniff die Augen zusammen. »Was wollen Sie damit sagen?« Sie sah ihn fest an. »Ich bin nicht das Richtige für Sie. Ich gehöre nicht zu jener Art von Mädchen, mit denen Sie im allgemeinen verkehren.« Seine Lippen öffneten sich zu einem Lächeln. Sie hatte also von ihm gehört. »Was für Mädchen wären das?« fragte er.
»Mädchen aus der Gesellschaft«, erwiderte sie. »Sie wissen, was ich meine.«
»Und weil Sie arbeiten, darf ich mich also mit Ihnen nicht befassen?« fragte er.
Sie antwortete ihm nicht.
Das Lächeln verschwand von seinen Lippen. »Von uns beiden sind Sie der Snob«, fuhr er fort. »Es ist nicht meine Schuld, daß ich nicht zu arbeiten brauche. Auch Ihnen hätte das zustoßen können. Niemand kann sich seine Eltern aussuchen.«
Plötzlich mußte sie lächeln. »Wäre es mir nur zugestoßen«, meinte sie. »Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen.«
Er streckte über den Tisch hinweg seine Hand nach der ihren aus. »Ich auch.« Er lächelte sie an.
Der Kellner stellte die Gläser auf den Tisch. Gordon nahm seinen Martini und hielt das Glas hoch. »Ein Toast!«
Sie ergriff ihr Glas. »Worauf?«
»Auf uns«, antwortete er. »Und auf unser gemeinsames Abendessen. Tom wartet schon seit langer Zeit darauf, eine Ente für Sie braten zu dürfen.«
Sie zögerte.
»Eine Absage nehme ich nicht an«, erklärte er rasch. »Nach diesem Cocktail fahre ich mit Ihnen gleich zum Strand hinaus.«
Sie atmete tief ein. Sie war enttäuscht. Er war nicht anders als die anderen auch. Er verlangte das gleiche. »Gut«, sagte sie.
Noch immer hielt er sein Glas hoch. »Und auf keine weiteren Heimlichkeiten. Ich möchte Sie oft sehen.«
Sie nickte müde.
»Tom und ich sind der Ansicht, daß Sie das hübscheste Mädchen in ganz Miami Beach sind«, fuhr er fort. »Ich
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