Die Moralisten
zerrissen. Sie kämpfte gegen die Nacht, um das Bewußtsein zurückzuerlangen doch die Schmerzen warfen sie wieder zu Boden. Sie öffnete mühsam die Augen und sah Ginnys wutverzerrtes Gesicht, spürte die Fingernägel und die Zähne des Mädchens und die scharfen Bisse der Peitsche. Sie schrie und schrie und schrie und schrie.
Dann hatte jemand die Tür aufgestoßen, und plötzlich war Ginny verschwunden, Judd hatte vor ihr gestanden und auf sie heruntergesehen. Sie hatte versucht, ihm etwas zu sagen, aber kein Ton war über ihre Lippen gekommen. Dann hörte sie seine Stimme: »Eine Eispackung, Procain, ACTH-Salbe und eine Spritze mit Deme-rol.« »Schmerzen«, keuchte Sofia. »Ich habe Schmerzen.« »Die sind gleich weg«, sagte Judd. Dann fiel sie ins Dunkel zurück.
Es klopfte an der Tür. »Herein«, rief sie. Judd stand in der Tür. »Darf ich?« Sie nickte.
Er trat beiseite, während eine Stewardeß ein Tablett mit dem heißen Kaffee neben Sofias Bett stellte. Judd wartete, bis das Mädchen wieder gegangen war. »Wie geht es dir?«
»Mein Kopf schmerzt«, ächzte sie und trank vorsichtig einen Schluck Kaffee. »Vielleicht bist du der bessere Doktor als ich. Ich habe überhaupt nicht begriffen, was vorging.« »Das Opium hat dich benommen gemacht«, erklärte Judd. »Als wir dich in die Kabine brachten, hast du geschlafen.« »Vielen Dank, daß ihr mich gerettet habt. Ich könnte jetzt tot sein.«
»Das Mädchen war verrückt, was wir aber nicht wissen konnten. Wir haben es erst festgestellt, als wir die Tür eingeschla gen hatten und sie über dir sahen.«
»Es tut mir leid«, murmelte Sofia, »ich wollte nicht so viel Wirbel machen.«
»Es war ja nicht dein Fehler«, beruhigte er sie. »Jedenfalls bin ich froh, daß du wieder einigermaßen okay bist.«
Sofia schwieg einen Augenblick. »Noch einmal: vielen Dank!«
Judd war bereits an der Tür. »In vier Stunden landen wir in San Francisco. Bis dahin solltest du schlafen.
Ich kenne dort einen Arzt, der deine Blessuren ganz schne ll verschwinden lassen wird. In ein paar Stunden ist nichts mehr zu sehen.«
Der Hubschrauber, der sie auf dem Flughaufen in San Francisco abgeholt hatte, landete genau um elf Uhr vormittags in Crane City, wo sie von mehreren Männern erwartet wurden. Als erster kam ihnen ein hoc hgewach-sener Mann mit grauen Schläfen entgegen und streckte Judd seine mächtige Pranke hin. »Hallo, Judd!«
Judd ergriff die dargebotene Hand. »Hallo, Jim. Wie fein, daß du gleich gekommen bist, vielen Dank.«
Dann wandte er sich an Sofia. »Darf ich dir Brigadegeneral Dr. Marlowe vorstellen? Dr. Marlowe war früher Spezialist für Verbrennungen im NASA-Krankenhaus Houston. Jim, das ist Frau Dr. Ivancich.«
»Wie geht es Ihnen?« erkundigte sich Marlowe. »Den Umständen entsprechend. Ich glaube, es sind nur oberflächliche Blutergüsse und Prellungen.« Marlowe lächelte zuversichtlich. »Na, wir werden ja sehen.
Ich bringe Sie gleich in die Klinik.« Sofia warf Judd einen fragenden Blick zu. Judd lächelte. »Du findest mich in meinem Büro. Sobald Jim dich versorgt hat, bringt er dich rüber.«
Während Sofia in Marlowes Wagen davonfuhr, nahmen Judd und Merlin im Fond einer zweiten Limousine Platz. Um ungestört reden zu können, drückte Judd auf den Knopf, der die halldichte Trennscheibe schloß. »Wieso ging aus Ginnys psycho-medizinischen Berichten nicht hervor, daß sie an einer latenten Psychose litt?« fragte er kalt. »Das weiß keiner«, erwiderte Merlin. »Sie überprüfen die Untersuchungsergebnisse gerade.«
»Ich möchte einen ausführlichen Bericht und sämtliche Unterlagen. Das fehlte noch, daß uns irgendeine Irre mit
dem ganzen Flugzeug zum Abstürzen brächte.« Merlin wußte, daß es besser war, den Mund zu halten. Wenn Judd wütend war, blieb er an der Oberfläche meist erstaunlich gelassen, aber seine Wut war gefährlich. Er duldete keinerlei Fehler.
Judd wechselte das Thema. »Haben Sie Judson über mein Gespräch mit S. Yuan Ling informiert?«
»Ja, er war hocherfreut. Er hat versprochen, die Brückenbauarbeiten so weit zu rationalisieren, daß wir noch einmal eine Million sparen.«
»Gut«, nickte Judd. »Ist Barbara in meinem Büro?«
»Ja, Sir.«
Judd lehnte sich in seinem Sitz zurück, ließ die Trennscheibe wieder herunter und schnippte mit den Fingern.
Fast Eddie reagierte sofort; er wußte, was Judd von ihm wollte. In Sekundenschnelle hatte er die goldene Kapsel herausgezogen und sie zusammen mit
Weitere Kostenlose Bücher