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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Verdächtiger.
    Auch dieser Wunsch auf seiner Rundreise ging ihm zuletzt in Erfüllung. Er mußte freilich eine geraume Strecke darauf warten und zur Erfüllung, wie sonst, das Seine dazutun. Er zwängte sich zwischen den Stehenden und auf dem Korridorboden Sitzenden vom Zugende durch nach vorn bis zur Lokomotive und wieder zurück. In den weiten, dann unvermutet jähen Kehren der Semmeringtrasse preßte es ihn in einem fort gegen die Körper der Passagiere, und er ließ das geradezu wohlig geschehen, dankbar, sich eingeordnet zu spüren unter die vielen da, zeitweise sogar begeistert, vor allem, sooft kein Durchkommen mehr möglich schien und er in der von wieder einer Kurve ineinandergeschobenen Masse, die Arme an den Leib gepreßt, keinen Finger mehr rühren konnte und mit dem Atem, genau wie die anderen, »sparen mußte«. Versteht sich, daß so nah, Auge in Auge, keiner ihn erkannte. Aber das erwartete er da auch gar nicht. Das Gesehenwerden wohl. Nur stellte sich das selbst in dieser Situation nicht ein. Voll Erwartung blickte er in alle die Gesichter im Kreis, eine Handbreit, eine Nasenlänge, eine Zahnstocherlänge weit entfernt, in Brauenbogendistanz, im Ohrmuschelabstand, einen Kürzestblickwurf weit weg: niemand, der bloß einmal, schnell-schnell, zurückschaute. Kam das von der übergroßen Nähe? So nah, war voneinander nichts zu erfassen? Nein: Auch an den Stellen, wo die Leute längs durch die Waggons schütterer standen, wurde sein Blick in die Gesichter nicht erwidert, sah und sah ihn keiner. Und nicht allein er wurde nicht gesehen, schien nicht zu existieren: Selbst untereinander, selbst dort, wo sie, durch Kleidung, Alter oder sonstwie eine Gesellschaft bildeten, gab es kein Gegenüber; niemand hatte Augen für niemanden. Dabei waren das fast alles, von Anfang bis Ende des Zuges, junge Menschen, blutjunge, und durchweg, wie sagte man, ansehnliche. Rückfahrt der gesamten Schulendklassen der Steiermark oder Kärntens von einer Exkursion in die Bundeshauptstadt?
    Und mittendrin er, der Gesichtsbedürftige, gesichtsbedürftig seit je her. Nichts ging ihm, wenn es die Zeit war, über ein Menschengesicht, keine Natur, kein Himmel, kein Buch. Und jetzt war es die Zeit. Vor den Fenstern, so hoch am Berg kurvte inzwischen der Zug, lag wieder der Schnee, aus dem die Lehne einer Wandersitzbank ragte: Nur keinen Schnee mehr sehen, nur keine Dinge mehr. Gesichter! Ein Gesicht! Gib mir ein Menschengesicht, und so wird meine Seele gesund. An diesen tausend gedrängten Gesichtern jetzt war freilich nichts zu sehen. Oder nein: Sie ließen sich nicht sehen, wie absichtlich, und wie schon seit langem – auch wenn das vielleicht in der normalen Zeitrechnung erst vor einer Woche, vor einem Monat, am Anfang des Schuljahrs geschehen oder beschlossen worden war. Eine beinah beängstigende Ähnlichkeit zeigten so alle die einmal gewiß verschieden gewesenen, im übrigen in der großen Mehrzahl weiblichen jungen Gesichter, wozu die Musikhörknöpfe da und dort in den Ohren und die von Gesicht zu Gesicht sich wiederholende Blässe nur wenig, jedenfalls nicht das Entscheidende beitrugen, eine zwillinghafte? eine puppenhafte – sicher keine geschwisterliche Ähnlichkeit, nirgends. Und es fehlte nicht viel, und er hätte, sich zwischen ihnen durchwindend, zuletzt eine dieser jungen Frauen, für die er und niemand anderer existierte, eine für sie alle, angeschrieen und beschimpft als Unmenschen, als Untote, als Unwesen, als Unheilige der letzten Tage, als Vortrupp vom Planet der Blinden Seelen, als eingebildete Herren und Herrinnen der Welt. Wenn er sie beschimpft hätte, so aber weniger aus Wut denn – eben – aus Angst. Und sein Schreien wäre, wenn überhaupt, wie das Schreien in einem Traum des Grauens, ohne Worte aus ihm herausgekommen, als ein klägliches Quäken, oder aber in ihm steckengeblieben.
    So schlug er sich buchstäblich durch bis ans Ende des überlangen Zugs, von wo er sich auf den Weg gemacht hatte im Bedürfnis nach einem Gesicht – als genüge schon ein Menschenantlitz, auch ein gesenktes, oder abgewendetes, für das Gefühl, gesehen zu werden. Dort, mit dem Blick hinten hinaus, auf die Schienen, wäre sein Platz. Immer wieder wurde er dabei, ohne Absicht, gerempelt. Sah ihn denn wirklich niemand? Gab es ihn vielleicht tatsächlich nicht? Fast hätte er zuletzt zurückgerempelt, allein um sein Vorhandensein unter all den Jungen unter Beweis zu stellen. Und dann am Zugende das Mädchen, das mit dem

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