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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Rücken zu der verglasten, versiegelten Waggonhintertür auf dem Boden saß und las. Umso steiler es bergauf ging, umso langsamer fuhr der Zug, und in den Kurven fast im Schrittempo, so daß die Landschaft hinter der Glastür in langsamen, von Mal zu Mal eine veränderte Perspektive bietenden Bögen sich entfernte und zugleich ständig wiederzukehren schien wie die Prospekte in einem Theaterstück oder in einem alten Film.
    Das Mädchen hob sich auf den ersten Blick kaum ab von den anderen Jugendlichen im Zug: Lederjacke, Jeans, Stiefeletten, falscher Brillantknopf an einer Nasennüster. Was sie aber sofort unterschied, war, wie sie da saß und wie sie las. Er sah sie zunächst nur zwischen den Beinen der Umstehenden durch und von dem Buch auf ihren Knien einen bloßen Ausschnitt, ohne den Titel. Aber wie sie las: Das war dir einmal eine Leserin. Sie lebte sichtlich mit dem Buch da, buchstabierte es nach, befragte es, befragte sich, war mit ihm verbunden, wurde und war mit ihm eins. Indem sie auf diese Weise las und indem das augenscheinlich ein Buch war, das sich auf solche Weise lesen ließ, zeigte sich der junge Mensch entrückt von der Umgebung – in einem anderen Element? Nein, überhaupt, im Gegensatz zu den übrigen, in einem Element, dem ihren, dem allein ihr entsprechenden, worin sie erst sie selber wurde. Und war dabei nicht etwa versunken, Entrückung hieß ja nicht Versunkenheit oder Abkapselung: bekam zugleich mit, was im Zuggang und draußen sich mitzubekommen lohnte, siehe ihre zeitweisen Aufblicke von dem Buch und die Rückblicke über die Schulter zur Glastür hinaus, beides wie veranlaßt durch ihr Lesen, nichts als das Lesen. Und er konnte sich nicht daran satt sehen, wie die Jugendliche, fast noch ein Kind? nein, kein Kind mehr, las, und las und las. Gesammelter Ernst strahlte aus von der Stirn, den gesenkten Lidern, der etwas platten Nase, von den vollen Lippen, die zeitweise mit dem Gelesenen mitzumusizieren schienen. Wie, ein Ernst, der strahlte? Ja, Herr Naseweis. Und obwohl er zu ihr, wie sie da saß, mit den gekreuzten Beinen, hinunterschaute, war ihm, je mehr er sich in diese Lesende vertiefte, als schwebe sie, gewichtslos, über dem Boden, und er mit ihr. Zu ihrem Ernst gehörte, daß sie zwischendurch, auch wenn sie spürbar nichts eigens Komisches oder gar Humoriges las, immer wieder lächelte, oder schmunzelte (etwas Seltenes, so ein Schmunzeln in einem so jungen Gesicht), oder, am häufigsten, nach jedem Absatz, den Kopf schüttelte – was ihr Erstaunen anzeigte, ein Überraschtwordensein, ein inneres Augenaufgehen, das sich Luft machte mit einem kaum hörbaren Seufzen und/oder Kichern. Alles, alles an ihr, mochte sie noch so stillesitzen, spielte mit dem Buch mit, und wenn dieses solch Offen- und Schönwerden (aber, war nicht Offenheit für sich schon die Schönheit?) hervorbrachte, so verdiente es in der Tat einmal seinen Namen, oder etwa nicht? So einen Leser, so eine Leserin, so jemand durch und durch Zarten, hatte er sich vorzeiten auch für seine Bücher vorgestellt – so ein Wesen; an solcherart Lesen hätte er sie erkannt, auf der Stelle, »mit hundertprozentiger Sicherheit«. Selbst wenn das gelesene Buch nicht von ihm gewesen wäre: er hätte sein Verfasser sein können, gemessen allein schon am Lidschlag des/der Lesenden, ein Lidschlag befreit von sämtlichen Automatismen, ein Lidschlag, welcher ein bewußtes Innehalten anzeigte – Bewußtwerden als ein Innehalten. Geduld ging über von »seiner« Leserin auf ihn; und in der Folge die umfassende Vorstellung: ihr Lesen sei ein Beschützen; indem sie so las, wie sie las, half sie jemandem, der in Gefahr war. Schutz gebend wirkte solches Lesen, Geleit gebend, bewahrend. Mütterlich, so wirkte diese Leserin, die doch halb noch ein Kind war, und das auch ihren Lebtag lang bliebe. »Ja«, sagte er dazu wörtlich auf dem Schiff: »Ich erachte meine Leser höher als mich selber.«
    Sie hob dann wieder einmal die Augen von dem Buch. Aber statt, wie vorher in der Regel, zurück über die Schulter zu schauen, blickte sie ihn an, zwischen den Beinen der Mitfahrer durch. Das war schon nach der Scheitelstelle des Semmeringpasses, und in der Hintertür des Zuges liefen die Schienen nun nicht mehr talwärts, sondern, im späten Tageslicht, bergan, ziemlich steil, momentweise wie eine an den Berg gelehnte Leiter. Was störte sie bloß so an ihm? Vielleicht, daß er so abgerissen war von seinem Alleingang nach Gutenstein und auf den

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