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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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den benachbarten Gegenden: Jetzt aus dem Flugzeug oder von dem fliegenden Teppich zeigte sie sich mit denen im Zusammenhang, und darüber hinaus mit dem ganzen Land – mochte das, was so sich sehen ließ, auch gar nicht alles vom Land sein. Und zugleich erkannte er den Baum in der Dorfmitte, den wohl schon abgestorbenen Kirschbaum, samt dem roh betonierten Quellhäuschen an seinem Fuß, und daneben das aufgelassene, immer noch gelbleuchtende Dorfwirtshaus, und gegenüber die Mauer rund um den fremden Obstgarten, über die man nicht nur einmal geklettert war zum Apfel- und Birnenstehlen. Und da, die Scheunenwand des Großvaterhauses, des Geburtshauses, samt der in die Bretter gesägten Entlüftungsluke, in Form eines Kleeblatts, eines, versteht sich, vierblättrigen. Oder war das wieder so eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung in seinem Inneren, aus einer sehr fernen Zeit? Und dort die Stelle mit den Kinovorschauplakaten an einer anderen Scheunenwand, ein Plakat pro Monat, kleine weiße Blätter mit nichts als den Filmtiteln, mit nichts als Schrift, nach all den Monaten, Jahren, Jahrzehnten buchdick in- und übereinandergeheftet, dann Ende, letztes Blatt, Schluß der Kinogeschichte. Und jetzt der Friedhof mit der haushohen Wehrmauer, »gegen die Türken«, wo über das Schindeldach gerade eine Katze lief. Und jetzt der See, verlandet? nein, doch nicht, nicht ganz, ein Wasserauge noch offen inmitten des Schilfwalds, die Schilfhalme im schwarzen Schlamm, und dieser zwischen den Zehen frisch hervorquellend, und die Blutegel im schwarzen Schlamm, und, und …
    Vom Flugfeld gleich auf die Alte Straße. Es wurde auch Zeit; Zeit, zu gehen; Zeit, »daheim vorbeizuschauen«, vielleicht ein letztes Mal. Und bald die erste Begegnung. Ein Mann stand da am Straßenrand, nah an den Brennesseln, vor einer Staffelei. Er war mit einem riesigen Malkasten, einer ebensolchen Palette, einem weißen Malmantel, aus dessen zahlreichen Taschen Pinsel in sämtlichen Größen hervorschauten, undsoweiter ausgerüstet, wie ein sogenannter Malerfürst, samt Pelzkappe mit einem Fuchsschwanz hinten. Aber als der Wanderer, von ihm herbeigewunken, nähertrat, erwies sich die Leinwand als leer, ohne einen einzigen Farbfleck, auch ohne irgendeine Vorskizze. Der Mann, offenbar nicht erst seit kurzem an der Alten Straße, stand erst vor dem Anfangen. Es hatte dabei den Anschein, er sei kurz davor, so heftig gestikulierte er jetzt mit dem einen Pinsel, jetzt mit einem anderen, jetzt mit der Spachtel, nahm damit in einem fort an etwas Maß, und jedesmal an etwas Verschiedenem, Nahem, Fernem, zu seinen Häupten, zu seinen Füßen, an was wohl? kniff das linke Auge zu, dann das rechte, rief einmal »Ha!«, dann »Ja!«, dann wieder »So!« (mit kurzem »o«) – ohne daß freilich je etwas geschah – die in Riesenwülsten auf die Palette gedrückten Farben waren überdies getrocknet und steinhart. Ein Möchtegernmaler schien das zu sein, kein rechter Maler, jedenfalls noch nicht, nicht für den Augenblick. Er war in Wirklichkeit jemand aus einer eher entgegengesetzten Welt, oder diese war einmal die seine gewesen, das hatte sich schon an der Geste gezeigt, mit welcher er den sich Nähernden zu sich winkte: eher ein Herbeibefehlen als ein Winken, ein kurzes, herrisches, nein, gendarmenhaftes Krümmen des Zeigefingers, ein einziges Mal, bei sonst unbewegtem Körper, starr auch die Augen und das ganze Gesicht, gegrätscht die Beine.
    Wie in der Folge bei fast all den einzelnen Begegnungen auf der Alten Straße der Schein trog und jeder sich früher oder später sozusagen entpuppte als der oder die, so auch jetzt hier: Ach, war das nicht der ehemalige machthabende Politiker im Land, auf den ein, wie man sagte, Geistesgestörter ein Attentat verübt hatte? Ja, er war es. »Ja, ich bin es.« Leise sagte er das, mit einer Stimme, die nicht wiederzuerkennen war. Sanft war diese Stimme, und doch tragend, wie früher im Radio, oder sonstwo, vielleicht nun sogar weiter tragend. Sein Herbeiwinken hatte getäuscht, es war ihm wohl unterlaufen, oder er hatte es gespielt. Sanft waren auch die zu seiner Zeit kaum wahrnehmbaren Augen, und groß, wie aufgerissen, flehentlich, geradezu ausgetrocknet, und stark vergrößert, wie bei einem Kind, die Pupillen, so als schaute er ins Dunkel. Und er redete ohne innezuhalten weiter und auch, ohne dem anderen eine Frage nach dem Woher und Wohin zu stellen. Allzulange hatte er an der Alten Straße auf ein Gegenüber gewartet; auch

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