Die morawische Nacht
Gegenwart, der Gültigkeit, des Weltbewegenden an dem, was der Lernstoff war. Staunen und Lernen, jetzt, und jetzt, und jetzt. Aber was lernte er da auf der Hügelrückseite im einzelnen? »Konkret?« Was an Weltbewegendem? Was zum Beispiel? Zum Beispiel badete da ein Spatz, kolibriklein, in einem Staubloch. Zwei Männer standen an einer Gartentür, einer innen, einer außen. Auf einem Fensterbrett stand ein Topf. Ein Fahrrad fiel um. Eine Frau hatte graugrüne Augen. Ein Mann hatte auf der Wange eine Narbe, die kein Schmiß war. Ein Zweig federte von einem da aufgeflogenen Vogel. Der Rest einer Zeitung ragte aus einem Kanalgitter. Die Sonne schien. Ein Preßlufthammer hämmerte. Ein Schwarzer trug Reklamezettel aus. Ein Türke und ein Asiate sprachen miteinander im österreichischen Dialekt. Ein Flugzeug, gelandet, heulte auf weit draußen in der Ebene. Der Himmel war, wie er war. Aber unter ihm bewegten sich andere Menschen, und auch er, der da ging, war ein anderer. Wenn das ein Lernen war, so zugleich ein Verlernen, ein nicht weniger lustvolles. Und die Gefahr des Außersichgeratens wieder, des Nichtmehrzurückfindens vom Neuen Planeten auf die alte Erde, ins Leben? Es gab diese Gefahr beim stillen Staunen nicht, oder kaum. Und was, und wo, war da Leben? Und wenn, so sorgte für das Gleichgewicht, zum Beispiel, irgendwo ein Geschäft zu betreten und etwas, fast gleich, was, zu kaufen, das Zahlenaussprechen, das Angebot, die Nachfrage.
Und so hatte der Wanderer ja auch wirklich, nach langem Kreuz und Quer am Ende des Tages an den Fuß des Hangs gelangt, sich als erstes in einen Käufer verwandelt, und zwar eines kleinen Teppichs, den er, das gehörte zu dem Tag, verschenken wollte, möglichst bald, an gleichwen, und mit dem unter dem Arm er dann um den Hügel herum stadteinwärts wanderte, in Erinnerung an eine Zeichenstunde einst im Internat, wo er ein Haus gezeichnet hatte, nur Fenster, ohne eine Tür. Und als ihn der Lehrer fragte, wo denn die Tür sei, antwortete er: »Hinten« – worauf der Lehrer das Blatt umdrehte und es, vor der Klasse, »Wo hinten?« brüllend, mit einem sehr spitzen Bleistift durchbohrte.
Später, wann?, später, als er auf der Alten Straße in einem Tag- und Nachtmarsch sich seinem Geburtsdorf näherte und voll Vertrauen einer seiner Begegnungen am Straßenrand von seinem Erlebnis auf der Rückseite des Hügels erzählte, entpuppte sich dieser andere dann unversehens als ein Journalist und erklärte ihm, das sei kein Stoff für eine Erzählung, und vor allem sei es nicht aktuell, so zu erzählen, wie das Ding, oder das Unding, von ihm, dem Wanderer, erzählt worden war. Davon freilich eben später, und mehr. Erst einmal und weiterhin schön der Reihe nach.
Jene Alte Straße war längst keine Fahrstraße mehr. Das war sie gewesen vor dem Krieg, vor den Kriegen, ein das Land durchschlängelndes helles Schotterband. Danach lief sie, in wechselndem Abstand, neben der neuen, mehr oder weniger geraden Asphaltstraße her. Diese diente als Überlandstraße, während die nun Alte Straße – so hieß sie auch –, obwohl sie mit ihren vielen Kurven um einiges länger war, seit jeher den Anschein einer bloßen Landstraße hatte, zusammengesetzt aus hundertundeins Teilstücken. Und inzwischen war sie nur noch als Fußweg benutzbar, und auch so höchstens bruchstückweise – indem von ihr nichts als freilich immer wieder ausgiebige Abschnitte übriggeblieben waren. Vor den fehlenden Segmenten hatte man sich aufs Geratewohl weiterzuorientieren, und auch, was von der Schotterstraße noch begehbar war, zeigte sich oft mit Gestrüpp überwachsen – sehr viele Geher lockte die Alte Straße nicht an (zumal sie nirgends als Wanderweg markiert erschien), einige dafür aber umso mehr.
Wieder nahm er vorher, um an den Ausgangspunkt seines alten Heimwegs zu gelangen, ein Flugzeug. Es war ein Inlandflug, die am selben Tag eröffnete Linie von G. nach K., und die sollte, nach Flugplan, ziemlich genau über das Dorf gehen. Er saß in einer kleinen Maschine, die niedrig flog, nicht viel höher als ein Hubschrauber, vielleicht auch, weil es der Jungfernflug war und den Fluggästen etwas zum Erblicken geboten werden sollte. Wie gewünscht, war klares und ruhiges Wetter, und er saß, auch das wieder wie gewünscht, am richtigen Fenster und sah dann unten, nah, in scharf umrissenen Einzelheiten, die Kindheitsgegend, die er noch nie aus der Vogelperspektive angeschaut hatte, und vor allem nicht im Verein mit
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