Die morawische Nacht
Schritt über den jenseitigen Wegrand hinaus, oder gar zu einem Abstieg; alle die Studienjahre war die Hinterseite des Hügelrückens nicht einmal Terra incognita für ihn gewesen, sondern überhaupt nicht vorhanden. Im Traum, in den Träumen freilich, viel, viel später, erschien ihm der stadtabgewandte Hang, samt der Landschaft in der Tiefe – in einer schwindelnden Tiefe –, eben als solch ein Anderer Planet, wie auch unter einer Anderen Sonne. Und an diesen Traum – selten genug war das – glaubte er. Und so machte er sich zu der übersehenen Gegend auf den Weg, wißbegierig, getrieben geradezu von Forschergeist.
Viel hatte er dann von diesem Teil seiner Expedition nicht zu berichten. (Andererseits ging es ihm ja, die Nacht lang, kaum um etwas wie einen Bericht.) Wenn es Entdeckungen waren, so ziemlich alltägliche. Das Unheimliche, das den Traum grundiert hatte – der Andere Planet könnte jetzt und jetzt seine Atmosphäre, seinen Luftraum verlieren –, entfiel. Es war ein hellichter Tag wie nur je einer, an dem der Wanderer von der Kammstraße oben abbog zur Kehrseite des Hügels. Auf den kurvigen Wegen und Seitenstraßen bergab hatte er, so spürte er es unter den Sohlen, einen besonders festen Boden unter den Füßen. Ein Aufwind wehte ihm entgegen, der noch verstärkt wurde vom Gehwind. Eine Frühlingssonne schien ihm voraus, so mild, wie man sie sich allein auf dem Heimatplaneten vorstellen konnte. Was von dem Traum weiterwirkte: das Gefühl, eingetaucht zu sein woandershin. Selbst der eigene Blutkreislauf schien, vom ersten Schritt über die Kammlinie, eine andere Bahn zu nehmen. Die Rückseite des Hügelrückens erwies sich im Gegensatz zur dem Zentrum zugekehrten, der Nordseite, auch im Widerspruch zum Traum, wo sie völlig unbevölkert gewesen war, als dicht besiedelt. Eher klein waren die Häuser da, von ebensolchen Gärten umgeben, eingeschossig oft nur, häufiger ältere als neugebaute, und alle, ungleich hoch, in ungleichmäßigen Abständen, auch mit unterschiedlichen Dachformen, schön durcheinandergewürfelt. Und das, so weit die Augen reichten, und die reichten an dem Gegenhang dort, bei den Antipoden sozusagen, weit, nicht bloß dank der Landschaft, sondern auch von sich aus. Es zeigte sich auf Schritt und auf Tritt Neuland, und es war, fremd und heimelig zugleich, ohne Spur eines Traumdüsters – zwar nicht seine Stadt, aber sein Land. Richtig gehört: Er ertappte sich sage und schreibe dabei, wie er wörtlich zu sich selber sagte, still staunend: »Das ist mein Land. Das wäre mein Land. Das wäre mein Land gewesen.« Und insofern konnte er vielleicht doch von einer Entdeckung sprechen. Dazu paßte, daß die Häuser, obwohl sie fast durchweg Wohnhäuser waren, ihm als Betriebsstätten erschienen, dort eine Mühle, dort eine Tischlerei, dazwischen eine Schnapsbrennerei, eine Schusterwerkstatt, ein Sägewerk, ein Steinmetz, ein Maurermeister, eine Wäscherei, nicht zu vergessen ein, zwei Bauern- und Gasthäuser, und auch die eine oder andere kleine Fabrik, für alles Mögliche (nur keine Waffen), und insbesondere ein Forschungszentrum, und daneben das Haus des Schreibers. Das mit »mein Land« vergaß er freilich gleich wieder. Still staunend ja, aber ohne Worte. Hätte er, wie früher regelmäßig, mit dem, was ihm durch den Kopf ging und Augen machte, oder umgekehrt, mitgeschrieben, so wäre das »Still staunend« zusammengeschrieben worden: stillstaunend. Die Geräusche, der Lärm, der Krach waren nämlich, auch das entgegen dem vollkommen geräuschlos geschehenen Traum, die erdweit üblichen, ersinne ein jeder sich dazu sein eigenes Hörspiel. Aber während seines Abstiegs staunte er das Sirren und Surren, das Rummsen und Wummern, das Hundeheulen und das Katzenjaulen, für diese Zeitlang wenigstens, still; oder: die Lärmarten waren ziemlich vollzählig in Betrieb, doch sie gingen ihm zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Das Staunen, es bewirkte eine Konzentration, wie man sie unwillkürlicher und dabei umfassender sich nicht wünschen konnte. Es war ein Anstaunen, ein Konzentriertsein ausschließlich auf einen Gegenstand, einen Vorgang, einen Augenblick. Und es war ein Lernen, ein lustvolles, bei dem er Lust bekam, immer weiter zu lernen – nur so, und nicht so, nie mehr so, wie er damals gelernt hatte, in seiner, na ja, Studienzeit am Vorderhang, in der engen, abgedunkelten Kammer dort ohne einen Schimmer der Anschauung und ohne einen Hauch oder Anhauch der
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