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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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von seinem Aufzug war niemand angelockt worden, oder war niemand sonst vorbeigekommen? Zwischendurch zeigte er die Schußnarbe am Bauch her, und gab sich selber eine Insulinspritze: im Schock des Angeschossenwerdens aus nächster Nähe war er binnen einer Sekunde zuckerkrank geworden. Mit der Politik war es aus. Er war nur noch ein invalider Pensionist. Witwer, ohne Freunde. Auch früher hatte er keine gehabt, aber das hatte ihn nicht geschert. Wie blaß er aussah, obwohl er den ganzen Tag auf den Beinen war, im Freien. Eine Zeitlang war er noch auf den Markt gegangen, von Stand zu Stand, auch auf den Fußball- oder Eishockeyplatz, hatte sich unter das Publikum gemischt, wenn einer seiner Nachfolger irgendwo eine Brücke eröffnete, einen Grundstein legte, einen ersten Spatenstich tat. Inzwischen freilich war sein Hauptort die Alte Straße. Nicht, daß es ihn wegzog von den Menschen, im Gegenteil. Er hätte weinen mögen, sooft ihn einer, nein, nicht etwa erkannte – einfach bloß wahrnahm. Es waren die Massen, die er nicht mehr ertrug. Schon eine Mehrheit von Leuten, mehr als zwei oder drei, eben mehrere, schreckten ihn ab.
    Erst einmal kamen auf der Alten Straße immer nur einzelne daher. Und dann ließ es sich da, versteckt in der Malermaskerade, so schön, auch schön schmerzhaft, nachdenken. Noch und noch Ideen, nicht für ihn selber, sondern für Land und Leute, wurden da geboren. Könnte er noch einmal anfangen, würde er wieder Politiker werden, jedoch einer, wie es hier seit des Kaisers Zeiten noch keinen gegeben hatte. Einer, der nicht austauschbar war und dessen Person, genau diese, gebraucht wurde. Und zuallererst würde er eine andere Sprache sprechen. Aus der anderen Sprache ergäbe sich alles Weitere. Und auf der Alten Straße flog ihm diese andere Sprache zu, wenn auch nur wörterweise, ohne daß daraus ganze Sätze wurden. Noch war es nicht so weit, noch war er nicht so weit. Aber wartet nur. Und er reckte dabei den Arm Richtung ferner Stadt. Wie seine Hände zitterten. Kaum konnte er den Pinsel halten, der ihm dann auch in die Brennesseln fiel, ohne daß der ehemalige Politiker das zu merken schien. Nicht aus dem Blick ließ er sein Gegenüber. Nicht weglassen wollte er ihn, stellte sich ihm in den Weg, lief ihm nach und zog ihn zurück, hätte sich um ein Haar vor ihn hingelegt, um ihn am Weitergehen zu hindern. Und ließ ihn unversehens doch ziehen, wünschte ihm einen »Glücklichen Weg!«, wollte bloß noch einmal angeschaut werden, und bekam davon tatsächlich nasse Augen?
    Eine Zeit danach rief den Wanderer auf der Alten Straße von hinten eine Stimme an, keine sanfte diesmal, eine schnarrende, eine, die krächzte, die Laute dehnte und die Silben verschluckte, wie die eines Betrunkenen. Er drehte sich um, und was er sah, schien das zu bestätigen: ein Mann im Torkelgang, ein Unbekannter, der wie wirr auf ihn einredete, zugleich so umstandslos, daß man überlegte, wo man ihm denn begegnet war, und ob man einander nicht gar seit langem kannte, ob man nicht, zu lange schon wieder allein unterwegs, das Gedächtnis verloren hätte, selbst die Freunde einem Fremde geworden? Und er ließ sich von dem Unbekannten einholen, der würde seinem Gedächtnis vielleicht aufhelfen? Ein Betrunkener war das dann nicht, eher ein Landstreicher. War demnach wieder eine seiner Jugendbekanntschaften verwahrlost oder, wie man sagte, vom Weg abgekommen, wie seine erste Liebe oder auch jener Mitschüler, der hellste Kopf im ganzen Internat, dem er Jahre später als abgerissenem Flötenspieler, das Spiel zum Ohrenzuhalten, am Abhang der Akropolis von Athen wiederbegegnet war, selbst wenn der sich nicht zu erkennen geben wollte?
    (Schon sein Dialekt, dort unterhalb des Parthenon, hatte ihn verraten.) Nein, der in der Folge so schwerfällig wie schweratmig neben ihm herging – eher ihn zwang, umgekehrt sich an sein Dahinschlurfen anzupassen –, war kein zum Landstreicher verfilzter alter Bekannter. Er war auch kein Landstreicher. Das wirre Haar beim ersten Blick über die Schulter war eine Täuschung gewesen. Ein Krauskopf war das, und der gehörte, wie sagte man, einem Schwarzen? einem Farbigen? Und ebenso verlor auch sein Gewand auf den zweiten Blick alles Clochardhafte. Keine Rede von Filz oder Verfilzung. Edle Stoffe und Tücher waren das ausnahmslos, Kammgarn, Kaschmirwolle, Seide, »reine Baumwolle«. Gar nicht schlabbrig oder fetzenhaft wirkte der Aufzug aus der Nähe, vielmehr weit, und luftig, und die Schuhe,

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