Die morawische Nacht
dem Weg, der sich jetzt zum Viehsteig verschmälerte, im ersten Tageslicht. Sie unter dem letzten noch funzelnden Stern, auf den sie den Großvater aufmerksam machte, der aber zu übernächtig war, auch zu sehr mit sich selber beschäftigt, den Kopf zu heben. Sie zwischen zwei Felsblöcken vor dem ehemaligen Partisanenunterschlupf, an den nichts mehr erinnerte, kein Granitsplitter, keine Patronenhülse, kein Aschenrund, kein Pritschenrest, kein Flugblattfetzen, keine Letter der von den Alliierten an einem Fallschirm abgeworfenen Druckmaschine – vielleicht das Allerwichtigste –: erinnernd, sich selber wie die Enkelin, allein der Großvater, der auf einmal gar nicht mehr müde war. Sie mit schwarzglühenden Augen, in der hohlen Faust, nein, keine Pistolenkugeln, sondern die steinharten blauen Wacholderbeeren. Sie bergan laufend, dem Großvater weit voraus, einen Gellschrei ausstoßend, dann noch einen, bis endlich ein Echo kam. Sie auf den Greis wartend, auf den Fersen hockend, ihm dann bergab entgegengehend, und so ewig ihm oder auch niemandem, jedenfalls niemand Bestimmtem, entgegengehend, einfach ihr Lebtag lang entgegengehend, sich von nichts und niemand unterkriegen lassend, das Innere erfüllt von Traurigkeit, zeitweise, aber von außen unverwundbar, geschützt von sich selber, von ihrer Natur, ihrem Wesen, für immer frei, für immer jung. Und das wünschte er ihr zuguterletzt aus der Ferne.
Und er? Blieb nach der Begegnung mit der jungen Leserin wieder lange allein. Er wollte das auch, vermied jedes Zusammentreffen, entschieden, mit Überzeugung. Dabei war er, ausgestiegen aus dem Zug, danach gerade in die Stadt geraten, wo er, nicht aufgrund seines Berufs, sondern von seinen Studien her, vielleicht die meisten Bekannten im Land hatte. Wie denen aus dem Weg gehen? Wie gehabt: indem man um die Innenstadt einen Bogen machte, die zudem, anders als in Wien, bald und ohne klare Grenzen ins Namenlose überging. Aber warum nicht, wie doch gewünscht, oder von der Gemse am Schneeloch befohlen?, schnurstracks heimzu, zum Geburtsdorf? Was hat dich statt dessen ausgerechnet nach G. geführt? Ein Traum war das, wieder ein Traum. – Ein Traum? – Ja, hat dich denn noch nie ein Traum auf den Weg gebracht? – Nicht mich. Mich nicht. – Was bist du bloß für ein Mensch. Schande über dich, vergißt deine Träume. Oder, noch schlimmer, schämst dich ihrer. Hört meinen Traum – ihr habt ihn auch schon geträumt, jeder von euch, immer wieder, sonst würde ich ihn euch nicht erzählen: Er handelt von den Rückseiten, von einer Rückseite. – Von welcher? – Von der Rückseite des Hauses, wo man zum Beispiel die Kindheit verbracht hat. Von der Rückseite eines Berges, den man immer nur von vorne gesehen oder bewandert hat. Der Traum, erinnert euch, handelt im Grunde jeweils von nichts. Er ist, wieder einmal, ohne Aktion. Zu sehen ist einzig, wie zuvor bei Wachlicht nie, die Rückseite, eine leere, wie unbelebte Sphäre, die aber zu spüren ist bis in die innerste Ader und in das Fersenbein. In einem klaren Düster liegt die rückwärtige Bergseite da. Mit einem Schritt hinein und hinab in die Sphäre betrete ich dann einen anderen Planeten. In einem Moment bin ich, mit einem unsichtbaren, materielosen Raumschiff, gelandet auf einem fremden, sehr fernen Stern, auf dem alles, bis auf das Licht vom Himmel, genauso ist wie auf der Erde, die Baumarten, die Landschaftsformen, das Wehen der Luft, die Gewässer (höchstens daß die dort auf dem Bruder- oder Schwesterplaneten allgegenwärtig sind – Wasser, wohin man schaut). Einmal hat sich mir dort ein kleiner Vogel auf die Hand gesetzt, ein Kolibri? fragte ich. Ja, ein Kolibri – er hieß gleich wie auf unserem Planeten. Alles, fast, erscheint einem gleich und hat auch die gleichen Namen wie bei uns, und doch weiß meine innerste Ader, oder wer, oder was, es anders, ab dem ersten Schritt in die Rückseitensphäre. Wie anders? Einfach anders. Grundlegend anders. Umwälzend anders. Nachhaltend anders. Wunderbar anders. Bedenkenswert anders. Erforschenswert anders. Systematisch anders. Systematisch? Ja.
8
Während seiner Lernjahre in G. hatte er auf einem Hügel gewohnt, an einem der Stadt und den Lehrstätten zugekehrten Hang. Zwar war der Weg auf der Hügelkuppe entlanggegangen. Aber der dem Zentrum abgekehrte Gegenhang war entweder von Häusern verstellt gewesen, oder er hatte nie bewußt dort hinuntergeblickt, geschweige denn war er je versucht gewesen zu einem
Weitere Kostenlose Bücher