Die morawische Nacht
geschehen, so schnell, so schnell auch die Frau verschwunden im Gras, so unglaublich das alles, daß kein Autofahrer, auch die, die vielleicht kurz gestutzt hatten, an das Geschehene glaubte. Es gab keine Augenzeugen. Doch, einen, und das war er, der Täter. Und was sah er? (Während er in der Nacht auf dem Boot davon erzählte, hielt er sich die Hände vor das Gesicht, nein, auch schon vorher, beim Erwähnen des Schlags.) Er sah sich selber, im Moment des Schlags, und dieser Moment würde zeitlebens frisch in ihm aufzucken, mindestens einmal am Tag, und auch kein Erzählen davon würde ihn lindern oder von ihm freisprechen. Er sah das eigene Gesicht im Zuschlagen, und das war gar nicht so entmenscht, wie es vielleicht hätte sein sollen, es war das Gesicht eines Rächers, eines, der auf den Moment der Rache Jahr um Jahr zugelebt hatte, ruhig und schön, das Gesicht eines Filmhelden, wenn auch nicht gerade das Gary Coopers oder Marlon Brandos, so doch eines, das ihm entsprach, als sein wahres, unverzerrt. Und die Frau? Aus dem Blick. Verschwunden. Und überdies war er nach dem Schlag ohne ein Innehalten weitergegangen, weg von der Alten Straße und dem Tatort Milchstand, am Rand der Überlandstraße, auf die Ortschaft jenseits der Anhöhe zu, zügig, aber ohne einen Laufschritt, und ohne sich umzublicken. Er hatte recht gehandelt. Triumph!
9
Wenn er den Ort gekannt hatte, so erkannte er ihn an diesem Tag nicht wieder. Nichts erkannte er da für eine lange Stunde wieder, obwohl das doch seine Heimatgegend sein mußte, sein Geburts- und Kindheitsdorf ganz nah, hinter der nächsten Anhöhe, oder etwa nicht? Die himmelhohe Bergkette am südlichen Horizont, schroffer Kalk, das hätten die Karawanken sein sollen, hinter denen für ihn sein Balkan begann – das waren sie aber nicht, sondern ein fremdes, wie von ganz woanders her dahinversetztes Massiv, und ebenso erging es ihm mit dem rundlichen, fast ebenso himmelhohen Gebirgsrücken im Norden: das war sie nicht, die Saualpe, das ihm von Kind an vertraute, mit Eisenadern durchzogene, die Gewitterblitze besonders anziehende Granit- und Glimmerriesenbuckeltier. Und auch der Fluß unten im Tiefland, kaum sichtbar, so versteckt floß er in seinem Trog, das war jetzt nicht die Drau, aber auch nicht der Ebro in Spanien oder der Silver Creek Bow in Montana. Unkenntlich wie die Berge war dieser Fluß, aus einer unbekannten Richtung kommend, in eine unbekannte Richtung unterwegs, unmöglich, ihn und die ganze Landschaft zu orten, fremd, so fremd, auch die Ortschaft dann. Wo bin ich? Himmel, wo bin ich? Das einzig halbwegs faßbare an dem Ort war der Name, den in der Nacht zuvor Filip Kobal für ihn gehabt hatte: Samarkand – obwohl er nicht so hieß, sondern? nirgends eine Ortstafel, und wenn, dann überschmiert, eingeschwärzt, die Buchstaben unleserlich geschossen.
Samarkand? Nichts Einheimisches zeigte sich ihm die Stunde lang, an Behausungen nicht, und vor allem nicht an den Leuten. Bei früheren Besuchen daheim hatte er nur bekannte Gesichter gesehen, auch wenn er sie im einzelnen gar nicht kannte: es waren die Züge vererbt von Urgroßeltern an die Urenkel, die immergleichen Züge. Diese, wie auch die Trachtenanzüge, samt Hirschhornknöpfen, die Wandergruppen mit den Schistöcken, die schlammbespritzten Rücken der Mountainbiker samt deren gellenden Stimmen und ebensolchen Radbremsen, die schwarze Kutte des Ortspfarrers, die mit Stiefmütterchen bestückten Schubkarren in den Vorgärten, den Landesdialekt hätte er, nicht unbedingt schweren Herzens, vermissen können. Aber dieser Ort schien von allen menschlichen Rassen bevölkert, nur nicht von der in der Gegend sozusagen angestammten. Und in der Mehrzahl waren das eben – siehe »Samarkand« – Menschen, so hätte man sie früher einmal genannt, »aus dem Morgenland«. Fremd waren ihm auch die, nicht freilich in ihrem Aufzug und Aussehen, sondern indem sie in dem Ort selber sich Fremde waren. Zwar erschienen die Häuser, fast ausschließlich Neubauten, als Allerweltshäuser. Aber das Straßen- und Gassennetz war noch das landesübliche, und darin bewegte sich die überaus zahlreiche morgenländische Bevölkerung, offenbar noch nicht lange da angesiedelt, nicht nur auf den ersten Blick fast gespensterhaft Unheimische, gespenstisch, für den auf wenige Viertel begrenzten Ort, allein schon als Zahl. Die arabischen Aufschriften an den Geschäften – die lateinische Schrift, hier und da, ziemlich in der
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