Die morawische Nacht
mit ihr, und jedes Wahrnehmen oder eben Erleben brach ab, und er tat, in der Vorstellung ihres Blicks, nur noch als ob, nahm wahr und erlebte sich als seine eigene Marionette. Fast sah er die ferne Frau, der er im Wort war, als seine Widersacherin, als, wie er sich ausdrückte, seine »Hinderin«, fast. Und so wandte er sich in den Momenten des Erlebens statt, wie in der ersten Zeit noch, und da ständig, ihr zu, von ihr ab, geradezu schroff.
Als seine Feindin sah er die Frau in der Sekunde, da sie einander nach der langen Abwesenheit wiederbegegneten. Das geschah am Ende der Alten Straße, am Eingang zur Ortschaft hinter der Anhöhe dort. So war es auch gedacht, das letzte Stück des Weges zu seinem Geburtsdorf wollten sie gemeinsam gehen. Daß die Gefahr, die er ständig witterte, genauso von ihm selber kommen konnte, sollte sich da bewahrheiten. Mit Argwohn bedacht hatte er die Frau wohl schon seit längerem. Verstärkt war der Verdacht noch worden in der Begegnung mit dem »Melchior« Genannten, der, nicht nur auf den ersten Blick, als die Liebenswürdigkeit und Menschenfreundlichkeit in Person erschienen war, dann aber – siehe oben. Wie auch immer: Als er die doch auch Langersehnte, von weitem schon, an dem vereinbarten Kreuzweg auf ihn warten sah, durchfuhr den Wanderer ein Blitz, blendend und zugleich klar: Sie, die sich als seine Geliebte gab, war in Wirklichkeit seine langjährige Verfolgerin, jene, die ihn, den Autor, selbst als Ex-Autor, bekämpfte über jedes Maß hinaus, wobei sie zuletzt auch nicht davor zurückgeschreckt hatte, seine tote Mutter zu entwürdigen mit Unterstellungen, die nicht einmal einer Shakespeare-Hexe eingefallen wären – jene, welcher er den Tod geschworen hatte dafür, wenn auch nicht mit seinen eigenen Händen, sondern durch einen, wie sagte man, Mietkiller – sie bloß nicht anrühren! Und nun hatte er sie angerührt, so anders als gedacht. Sie hatte ihm aufgelauert, dort an der Lichtung unter den Eukalyptusbäumen, und er war ihr, der bösesten der Hexen – es gab auch gute, engelhafte! –, in die Falle gegangen.
Kehrtmachen? Und schon lief er auf sie zu. In gewissen Augenblicken seines Lebens hatte er sich von außen gesehen, wie der Zuschauer eines Films, dessen Akteur er gleichzeitig war. So geschah es auch jetzt. Er lief mit der Traglast auf dem Rücken, die bei jedem Schritt aufhüpfte und eine Musik aus rhythmischem Gerassel, Getrommel und Geknatter erzeugte. Obwohl er nichts als die Frau an der Kreuzung im Auge hatte, übersprang er jede Pfütze und wich den Felsblöcken aus, die das Ende und den Anfang der Alten Straße anzeigten und die Autos auf der Neuen Straße am Einbiegen hindern sollten. So wirkte sein Lauf – er sah sich von oben – spielerisch, getrieben von Übermut, und nebenbei dachte er auch tatsächlich einen Film mit dem Titel »Der sanfte Lauf«, und ebenso nebenbei summte er im stillen die Musik des Tragsacks und seiner Laufschritte im Schotter mit. Hauptsächlich aber war er auf Zuschlagen, und, wenn es so käme, warum nicht, auf Totschlagen aus, und was so nebenbei in ihm vorging, das Sicherinnern, das stille Singen, widersprach dem nicht, es gehörte dazu, es wurde sogar verdeutlicht von dem Schritt für Schritt noch sich steigernden Gewaltimpuls im Zentrum seines Körpers, seines Bewußtseins. Und sie? Sie verstand seinen Lauf, und vor allem, wie er auf sie zulief, als seine Art der Begrüßung. Gleich würden sie einander wieder haben, und zwar für immer, und es brauchte keine Worte zwischen ihr und ihm, zunächst nicht, und dann noch lange nicht, vielleicht nie mehr. Ein Wort, gleich welches, selbst das allerzarteste, würde den Morgentraum jetzt, der, solange sie beide nur stumm blicken, mehr galt als jede sonstige Wirklichkeit, stören, ja, ihn zerstören. Aber der Läufer da sprach, wurde, wie es gar nicht zu seinem Lauf paßte, lauter, schrie. Und was schrie er? »Ich weiß, wer du bist. Du bist durchschaut. Weg mit dir, Teufelsweib. Zur Hölle mit dir.«
Dazu als Antwort ein Lächeln von ihr, im Glauben, er rede im Spiel, und seine Sätze meinten eher das Gegenteil. Aber schon hatte er sich auf sie gestürzt und auf sie eingeschlagen, einmal bloß, bloß?, so stark, daß sie stracks zu Boden fiel, ins hohe Gras rund um einen zerfallenen Milchstand an der Schwelle zwischen Alter und Neuer Straße, und sich nicht mehr rührte. Hatte denn niemand den Gewaltakt gesehen? War die Neue Straße nicht vielbefahren? So jäh war es
Weitere Kostenlose Bücher