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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Gegensatz zu dem Rucken und Zucken, dem in der Blickfalle Hampeln und Zappeln von uns Besuchern. Und aber dann, wir zurück im Bus, dieser im Losfahren, eine, eine einzige Bewegung in ihr, der Menge, der Überzahl, von einem einzelnen. Einer von uns drinnen, auf seinem Fenstersitz, hatte plötzlich, so als sei nichts, als sei nichts gewesen, als sei nie etwas gewesen, hinausgewinkt. Klar, daß das Winken nicht der ganzen Ansammlung, nicht der Rotte galt – eine solche war das in den Abfahraugenblicken schließlich doch, mitsamt einer einheitlichen Pantomime des Waffenanlegens und -abdrückens, abwechselnd mit einem ebensolchen Kußhändewerfen, unter einem allgemeinen, wie gleichgeschalteten Grinsen –, sondern eben jemand einzelnem. Der Ex-Autor, indem er dem Blick des Winkers, der Winkerin, folgte, fand dann auch heraus, wem. Klar außerdem, daß ein Kind gemeint war? Nein, bei einem einzelnen Alten oder Erwachsenen hätte er sich ebensowenig gewundert. Jedoch das Winken zielte, ja, es zielte, auf ein Kind, ob zufällig oder nicht. Und das Kind, fast versteckt in der Masse, es winkte zurück. Es hatte erkannt, daß auf es abgezielt wurde, auf es allein. Was war das freilich für ein Winken gewesen!
    Unser Gastgeber unterbrach sich in jener Nacht auf dem Morawa-Boot bei seinem Erzählen. Langvergangen erschien ihm das Ereignis, und zugleich geschah es jetzt wieder. Und so fiel er von der Vor- und der Mitvergangenheit, nach einer Atempause, in die Gegenwart. Was ist das freilich für ein Winken? Das Kind aus dem anderen, dem »Feindvolk«, reagiert nicht sofort, und dann zunächst nur mit den Augen. Es weiß sich nicht zu fassen. Es schämt sich. Es ist ihm peinlich. Es wird rot. Es möchte wegschauen. Es möchte überhaupt weg. Und es möchte ganz und gar nicht weg. Es möchte der Winkerin im Bus eine Kußhand zuwerfen wie alle die anderen. Es möchte ihr die Zunge herausstrecken, eine Zunge so lang, daß sich dabei sein ganzes Gesicht verzerrt. Für eine zitternde Sekunde ist das nicht bloß möglich, sondern steht unmittelbar bevor, wie aber auch das gerade Gegenteil nicht bloß möglich ist, sonst würde diese Sekunde ja nicht zittern, und es, das Kind dort jenseits der Trennlinie, mit, am ganzen Leib, ohne daß sein Zittern allerdings nach außen dringt und irgendeinem der Umstehenden kenntlich wird.
    Ein Zittern ist eines, das auf sein Inneres beschränkt bleibt und da aber umso gewaltiger umgeht, ein Tiefenbeben, bei dem eine Eruption unvermeidlich sein wird. Gleich wird sie geschehen. Und jetzt geschieht sie auch. Und diese Eruption, sie ist sein Zurückwinken, an dem so gar nichts Gewaltiges sichtbar wird. Fast unsichtbar winkt das fremde Kind, auch ganz und gar unscheinbar, nein, das ist nicht das Wort, vielmehr? zage, ja, das ist das Wort. Es hebt zum Winken, anders als die Frau im Bus, nicht den Arm. Es läßt diesen hängen, unten am Leib. Bis an die Knie hängt ihm der Arm, wie üblich bei einem Kind. Und das endliche Antwortwinken hat den Anschein eines bloßen Fingerzuckens, eines kurzen, einmaligen, eines bloßen Reflexes wie bei dem Test Hammer-aufs-Knie, Knie, das dann leicht wegschnellt.
    So kleinklein ist das Winken, nein, das ist nicht das Wort, so – verhohlen. Und es ist »tatsächlich«, »wirklich« (siehe oben) ein Winken, kein Reflex. Für einen Reflex ist die Handbewegung, auch wenn das Fingerkrümmen nur ein einziges Mal und als Winzigkeit sich sehen läßt, zu langsam. Nicht automatisch auch bewegt sich die kleine Hand, vielmehr bedächtig, nein, bedachtsam; so langsam wie bedachtsam; kaum wahrnehmbares Sichrunden der Finger, das aber aus dem ganzen Körper kommt. Und der Ex-Autor entschuldigte sich dann bei seinen Zuhörern auf dem Boot für diese »Großaufnahme« – nur so sei die Sekunde zu überliefern gewesen, und solche Überlieferung sei er sich und den anderen schuldig gewesen, vor allem dem Kind, das ihm in der Vorstellung zugehört habe, vielleicht längst schon kein Kind mehr. Oder eigentlich doch noch? Und was hieß da »eigentlich«? – »Wenn es mit rechten Dingen zuginge.«
    Zurück auf der Seitenstraße, wo, nach der Hinfahrt in der Leere, eine langgezogene Menge ein starres Spalier stand, samt vereinzelten Stinkefingern und Bras d'honneurs, hinauf zur Magistrale. Über-die-Schulter-Blicke der Businsassen, ein letztes Mal, und noch ein letztes Mal, und noch ein letztes Mal, während der Einzelreisende, statt ihnen gleichzutun, sie zusammen anschaute, im Kreis, denn

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