Die morawische Nacht
er hatte ja inzwischen seinen Sitz unter ihnen. Anders als bei Schulbussen, wo, das wußte er aus einer früheren Anschauung, die Schüler, zumindest der kleineren Jahrgänge, wie gemäß einem physikalischen Gesetz sich allesamt hinten im Heckteil scharten, so daß die vordere Bushälfte in der Regel leer blieb, hockten diese Auswanderer – ja, es war, als hockten sie weiterhin, wie früher, lang, lang schien das wieder her, auf dem verschwundenen Friedhof – im Bugteil, nah dem Fahrer, gleichsam einer auf dem andern. Wie erwartet, verfielen sie, einmal auf der breiten Magistrale, in ihre früheren Beschäftigungen oder Haltungen, Zahlentüfteln bei Sudoku. Spucken ins balkankarierte Taschentuch. Löffeln aus einem Blechnapf (der etwas von einem Stahlhelm hatte). Nur waren das, selbst ein Schnarchen, keine bloßen Geräusche mehr, solche und solche, es waren Nachklänge, die, auch wenn sie im zeitlichen Abstand erfolgten, etwas wie einen Zusammenklang hören ließen, einen flüchtigen, vielleicht eine Stunde lang. Und eine andere Gemeinsamkeit zeigte sich dann in ihren Händen, denen, die frei waren. (»Ah, schon wieder Hände!« unterbrach sich der Erzähler.) Diese Hände lagen jeweils auf den Schenkeln oder zwischen den Sitzen, wie etwas Unzugehöriges, etwas, das sich selbständig gemacht hatte, dabei vollkommen still, höchstens mitvibrierend mit dem Bus. Sie waren allesamt mit dem Handteller nach oben gekehrt, aufgebogen zu Schüsseln, leeren, und ihm war es, bewirkt wohl auch durch das Vibrieren, als werde in den Schüsseln etwas gewichtet, und zwar ein Vogel, ein mehr oder weniger kleiner. Lebendgewicht? Totgewicht? Ein Bild und eine Frage, die ihn auf seiner Rundreise begleiten sollten. Ein Hund lief dann, mitten auf der Magistrale, neben dem Bus her, angesprayt, oder war das ein Zufall?, in den ehemaligen Landesfarben. Er rannte und rannte, gab nicht auf, und so wurde er, für eine Strecke, kurzerhand an Bord genommen.
Später die erste größere Siedlung, gleich an der Straße, die in mehreren Windungen da durchführte. Und da auch der erste Steinwurf gegen unseren Bus. Der mußte in den Kehren verlangsamen und bot so ein leichtes Ziel. Zunächst wußte er, der erzählte, gar nicht, daß es ein Stein war, der jäh gegen eins der Fenster prallte. Es hörte und fühlte sich an wie ein heftiger Faustschlag, der nicht nur das Fenster traf, sondern den ganzen Bus. Die Passagiere aber reagierten nicht, auch er nicht. Das Glas, ein spezielles, war nicht zersplittert, bloß eingedellt, mit feinen Rissen, die ausstrahlten von der Delle. Erstmals dann eine Frage: »War das ein Stein?«, und als Antwort ein Nicken, ein kurzes; für die andern schien der Vorfall nichts Ungewohntes. Bei der nächsten Kurve gleich noch ein Stein, und bei der Ausfahrt aus der Siedlung (die früher Malischevo hieß und inzwischen, nach der Neuordnung, Malischeva, so wie überhaupt alle die kurzen O-Enden ersetzt worden waren durch breit ausgemalte und ausgesprochene A's) ein dritter.
Und so ging das auf der Weiterfahrt, durch das neugeordnete Land, von Siedlung zu Siedlung fort, trotz der Geleitschutzwagen vor und hinter dem Bus, ohne daß daraus freilich je ein Steinhagel wurde. Ein jedesmal krachte, knallte oder klirrte nur ein einzelner Stein gegen das Glas und das »Steyr-Diesel« oder-wie-das-hieß-Blech aus dem Nachkriegsösterreich, und vielleicht, vielleicht aber auch nicht, eine Biegung danach, ein weiterer. So oder so fuhr man ab einem gewissen Zeitpunkt oder Steinwurf in einer ständigen Erwartung und Vorwegnahme, die etwas anderes waren als Angst, und doch, so der Erzähler wörtlich, »nicht ganz ohne«. Ein paar Steinwürfe nach dem ersten, und dann noch ein paar Steinwürfe weiter waren die kein dummes Kinderspiel mehr.
Dabei war es, als seien diese Steine jeweils eher klein, jedenfalls keine Brocken. Zwar trafen sie immer, aber die stärkste Wirkung – man konnte das freilich nie im voraus wissen – blieb zuletzt doch eher die jedesmal wieder unerwartete Jähheit des Knalls, selbst bei noch und noch Gefaßtheit. Und lange war von dem einen und dem anderen Werfer draußen dort keine Spur. So wie man, oder allein er?, auch hinausspähte: niemand, vor dem Anprall an das Gehäuse ebenso wie danach. Keinmal kam ein Stein geflogen, wenn man ihn erwartete, im Gedanken Jetzt! und jetzt!, so wie etwa angesichts der sich von Ansiedlung zu Ansiedlung an den Straßenrändern mehrenden Ansammlungen von Jugendlichen, die von der
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