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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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das ebenso rhythmische Auf- und Abblenden der Scheinwerfer, unnotwendig auf der beständig leeren Magistrale, gehörten zu dem Spiel. Gleich würden die Worte, würde die Stimme dazukommen, die nicht unbedingt eine Singstimme sein mußte.
    Und so geschah es dann auch. Aber nein, das war jetzt nicht die Stimme eines Guslaspielers, jäh loslegend, aus der Tiefe des Brustkorbs, raumfüllend. Halblaut kamen dem Fahrer die Worte von den Lippen, und sie richteten sich an keine Zuhörerschaft. Hätte der Erzähler sich nicht in einer Vorahnung dicht neben ihn gesetzt, wären sie unverständlich, ja, unvernehmlich geblieben. Keinerlei Rhythmus auch in dem, was er sagte, kein Ineinandergreifen, wozu paßte, daß mit dem Mundaufmachen gleichzeitig das Motorengeräusch sich normalisierte und unauffällig wurde, ebenso wie dann gleichmäßig das Fernlicht aufgeblendet blieb. Trotzdem war es Zorn, der sich aussprach, der bestimmte, wenn auch dem neben ihm noch nie solch zartes, nein, solch kindhaftes Zürnen zu Gehör gebracht worden war. Einmal kam das von den seltsam hohen Tönen, durchweg Kopftönen, in denen der zornige, so im Widerspruch zu seiner Massigkeit, da halblaut vor sich hinredete. Und dann war das eine Art von Zorn, bei dem der zornige Redner, und das war in diesem Fall kein Widerspruch, zugleich mit den Lippen spielte, wie manchmal kleine, sehr kleine Kinder, und die Folge der Lippenlaute unterlegten seine Flüche, Verwünschungen, Schmähungen mit etwas wie einer Melodie.
    Der Zorn des Buschauffeurs äußerte sich folgend: »Sie haben uns immer gehaßt. Sie haben alles bekommen, was sie wollten, und hassen uns weiter. Mehr denn je. Blindwütiger denn je. Blinder denn je. Sie haben ihren Staat bekommen. Sind jetzt ein Staatsvolk wie die Litauer, wie die Katalanen, wie die Transnistrier, wie die Cisnilianer, wie die Talkalmücken, wie die Bergslowenen, wie die Donau- und Mekongdeltaautonomen. Sie sind ein Staatsvolk und, o endlich wahrgemachter großer Traum, ein Einvolkstaat und hassen uns Überbleibsel vom Zweitvolk, das kein Staatsvolk ist, hassen uns, als seien wir Reste das Staatsvolk, und nicht sie. Und ihren Haß, den brauchen sie ihren Kindern gar nicht erst ausdrücklich beizubringen. Er überträgt sich einfach so, von Generation zu Generation, von Gen zu Gen, längst jenseits der Blutrachen und der Kriege. Längst ist der Haß gegen uns, wenn er je einen Grund hatte?, nein, er hatte nie einen Grund, ist euer Haß grundlos geworden und hat sich verselbständigt. Er ist euer Lebenselement geworden, und nicht etwa euer Staatsbewußtsein. Ha, Leben. Euer Staat, er dient euch nur dazu, euern Haß auszuleben, im Schutz eurer Staatsgrenzen, Flaggen, die Drohflaggen sind, und Hymnen, die Haßhymnen sind. Euern Haß auf jeden, der nicht euer Staatsangehöriger ist, auf alles, was nicht Staat ist. Keinen Stolz bezieht ihr aus eurem Staat, sondern die Legitimierung und Verewigung eures Hassens. Und insofern seid ihr der Beispielstaat für alle die heutigen Staaten, seid ihr der moderne Staat, der neumoderne. Staat und Haß, das gehört zusammen. Ha, nie und nimmer hätten Eltern und Großeltern, die ihren Kindern den Haß gegen die anderen, uns andere, nicht nur nicht energisch ausgeredet, sondern im Gegenteil auf sie übertragen haben, ein Staat, solch ein Staat werden sollen. Ha, nie und nimmer haben Eltern und Großeltern, Sippenoberhäupter und Clanführer, Politiker und Lehrer, Sportstars und Dichter, die den gerade erst geh- und greiffähig gewordenen Kleinkindern nicht mit geballtester vereinigter Energie das Steinewerf-Gen austreiben, nicht den Steinwerfautomatismus ihnen ausräuchern aus Fleisch wie Blut, ihnen nicht die Haßpochleier wegflüstern aus den Kleinkindohren, bis hinein in die tiefsten Hirnwindungen, wegflüstern mit Engelszungen, ja, mit Engelszungen – nie und nimmer haben sie, habt ihr alle das Recht auf einen Staat. Aber Staat oder Nichtstaat: euer Haß, der höret nimmer auf.«
    Hier verstummte der Fahrer. Ende seines halblauten Zornausbruchs. Freilich fuhr er nach einer Pause fort, wenn auch in einem anderen Ton, lauter, fast ein Gesang, eingeleitet von einem Summen, aus dem klar die Anfangstakte von »Apache« herauszuhören waren: »Doch was soll's. Mögen sie meinetwegen jeden ihrer Heuschober zum Staatsheuschober erklären, jeden früheren Feldgrenzstein zum Staatsgrenzstein, jeden kleinen Steineschmeißer zum Staatssymbol. Ich bin staatenlos, und darauf bin ich stolz. Immer war ich

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