Die morawische Nacht
trinken brachte, und mit denen die Lebenden, auf einer besonderen Sitzbank an einem besonderen Eßtisch – auch von denen keine Spur mehr –, vor dem Grab nach Kräften mithielten; solch Toten- oder Ahnenkult war einer der Hauptstränge der zu jener Zeit noch streng befolgten Religion; jede Sippe bewahrte das Gedächtnis der Toten bis lang zurück, und so gab ein Festtag, oder zumindest eine Feststunde bei den Gräbern, den andern; was traditionell aber zugleich Gefahr bedeutete, und gesteigert in Kriegszeiten: Feiertag und Verbrechen, Feiertag und Verrat, Feiertag, Entscheidungsschlacht und Niederlage gehörten »bei uns« zusammen.
Und jetzt warteten die Überlebenden auf dem Ex- oder Rest- oder Rumpf-Friedhof mit Speise und Trank auf. Wie aber das – ohne Grab, zudem für Verschollene, die noch immer nicht für tot erklärt waren und deren Körper, gesetzt, hm, sie seien, hm, wirklich tot, anderswo verwesten, und wohl auch unbegraben? Keine Fragen. Es war, wie es war: Die Überlebenden, die Entkommenen, die Weggereisten, hockten dort, wo, laut dem einen Zeugen, der Vater, die Brüder, die Schwester, der Onkel, die Tanten dichtgedrängt zusammengesessen hatten und einige Momente später, weggezerrt von den Maskierten ins Dickicht, schon nicht mehr.
Ständig ging die Kerze inmitten der »Lebensmittel« aus, ausgeblasen vom Plateauwind, oder von was immer. Sich zu ihnen hocken: bewahre. Sie weinten so laut in die Leerstelle hinein, so vollkommen unverschämt. Nicht ganz so vielleicht das Weinen der Männer, besonders des einen, gar Breitschultrigen, mit der, hm, niedrigen Stirn, der vorher im Bus um sich geblickt hatte wie auf dem Sprung für Mord und Totschlag; ein Weinen kam von ihm, inniger als das eines Kindes, dem, nach noch und noch Geschrei, Gebrüll und Gewinsel um Hilfe, im Bewußtsein der Verlorenheit nichts mehr geblieben war als dieser eine anhaltende sehr hohe Ton, weit höher als der der anderen, ebenso in seiner Leisheit den der anderen, den der Frauen, übersteigend. Es gab keine Hilfe mehr. Und wie zur Bestätigung schoß unter dem Reisig, als einer der Hockenden es für das Aufstellen einer neuen Kerze beiseiteschob, eine Schlange hervor, geweckt aus der Winterstarre und von der sengenden Sonne beweglich gemacht – biß freilich nicht, schnurte bloß so, nach dem Losspringen, weg in das Untergras des Nicht-mehr-Gottesackers, mit einem Rasseln, das von keiner Klapper rührte, sondern von der Schlangenhaut zusammen mit dem Reisig. Und für die Runde im Gras hatte es den Moment der aufspringenden Schlange gar nicht gegeben, oder er zählte für sie nicht; keiner, der irgendwie innehielt. Und für ihn, den Dabeistehenden, galt weiter das Ohren auf! Hör, das Knacken und Knirschen all der steifen schwarzen Lederjacken zusammen mit dem fortdauernden Jammerchor, zusammen mit dem von einem zum andern übergehenden Trauerkanon. Das Blöken von Schafen unten im Dorf und das Blöken eines Milans oben im Himmel.
Als sei nichts gewesen, still zurück, hinab zum Bus. Bei diesem inzwischen eine Menschenmenge, so groß, daß die unmöglich nur von dem Dorf stammen konnte? Doch: so viele, und mehr noch, Abertausende, lebten da, wenn auch die meisten an den üblichen Tagen weder hörbar noch sichtbar. Dieser Tag jetzt war aber kein üblicher, für niemanden, weder für die eine Seite noch für die andere. Ja, im Unterschied zu der Menge beim Aufbruch aus der Enklave gab es zwei Seiten, und die Menge hier stand auf der anderen. Keine böse oder feindselige Menge schien das. Die Militärpolizisten brauchten sie nicht in Schach zu halten. Die Ansammlung da blieb in Distanz ohne eine gezogene Waffe. Völlig ausdruckslos jeder einzelne in ihr, musterte sie so das Häuflein der Busleute. Die, ohne Anstalten, in den Bus zu steigen, gruppierten sich davor, eher locker, und schauten umgekehrt zurück, aber so, als suchten sie unter den tausend Köpfen dieses und jenes altbekannte Gesicht. Und mancher fand das dann auch. Zu erkennen wurde das an einem Leuchten in den Augen, einem seltsamen, jedenfalls nicht freudigen, ohne daß das Leuchten dort auf der anderen Seite irgendwo beantwortet wurde. Allgemeine Wortlosigkeit, bei Auf- und Abschlendern vor dem gelben Bus mit der kyrillischen Aufschrift einerseits, bei fast vollkommener Unbewegtheit, auch der vielen Kinder, andererseits – womöglich nicht einmal ein Wimpernzucken. Geradezu schön erschien diese Menge in ihrer stummen großäugigen Gleichmäßigkeit, auch im
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