Die morawische Nacht
Passage des exterritorialen Busses im voraus benachrichtigt zu sein schienen: nein, keiner von denen bückte sich, bewegte sich auch nur, verzog eine Miene – einzig das geradezu ikonenhaft (ein Ausdruck, den sie sich nicht hätten gefallen lassen) stille, dunkle, großäugige Schauen. Dazu ließ der Fahrer, der, so als sei nichts, das Fenster zu seiner Seite aufgeklappt hatte, inzwischen Musik hinausschallen, eine laute, die freilich, ganz unbalkanisch, wie sie war, ohne Harmonika-Klirren und Kurzrohrtrompeten-Schmettern, niemand provozieren konnte – es waren die weithin hallenden Gitarren des Instrumentalstücks »Apache«, ein Klingen so universell wie nur eines, wobei ihm, dem Einzelpassagier, war, diese Apache-Gitarrenklänge hätten, ganz gleichlautend, auch, damals schon, in demselben Bus wie dem jetzt, seine Schulfahrten begleitet.
Momente der Abwesenheit im Hören dieser Musik, bei Nachlassen und Verschwinden der Erwartung. Und gerade aus solcher Abwesenheit heraus wohl sah er dann den nächsten der Steinewerfer, und in der Folge, da er nun wußte, wie schauen, auch die späteren. Es waren das durch die Reihe Kinder, und in der Regel so kleine, daß die Steine, die sie warfen, auf einmal doch unverhältnismäßig groß wirkten, so kleine auch, daß – hätte es noch etwas zum Verwundern gegeben – es verwunderlich war, wie treffsicher sie ausnahmslos an ihr Werk gingen. Sie hockten im Staub an der Magistrale, schienen zu spielen, und spielten vielleicht auch ernstlich, ein jedes allein, ins Spiel versunken, und offenbar im Unwissen über das Nahen des Busses. Und gleichwohl schleuderten sie dann ansatzlos, aus dem Staub heraus aufschnellend, ihren Stein, ohne daß man den kommen, geschweige denn fliegen sah, und waren fast zugleich wieder in der Hocke bei ihrem Spiel. Hatte das das Geräusch des Motors gemacht? Die gelbe Farbe, aufgenommen aus den Augenwinkeln? Ja, ein Kind nach dem andern merkte auf bei etwas, das ihm in den Augenwinkeln dazwischenkam. Doch dabei handelte es sich eher nicht um das Gelb als um die Schrift graublau auf der gelben Flanke. Sie waren ein jedes zu klein, als daß sie schon lesen hätten können, die landes- oder staatseigene Schrift ebensowenig wie diese fremde, kyrillische. Was sie dafür wußten oder in sich hatten: in der Form dieser Schrift, so ausgebleicht die auch war, verwaschen, die Lettern halb hinein ins Gelb zerlaufen, näherte sich der Feind, und der, so der Reflex noch vor jedem Gedanken oder Entschluß, hatte eins draufzukriegen – schon geschehen.
Der Bus wurde schneller. Keine Musik mehr. Die Dämmerung. Sie würde – man war immer noch im Süden – nicht lange dauern, und es war klar, es drängte nicht nur den Chauffeur, noch vor der völligen Nacht jenseits der Grenze zu sein. Dabei hatte die Beschleunigung nichts von einer Flucht. Die Siedlungen, und mit ihnen die Steinwürfe, lagen hinter uns. Wir fuhren durch ein lichterloses, wie für alle Zeit menschenleeres, nichtendenwollendes Niemandsland. Das Schnellerwerden kam vielmehr von einer Ungeduld und, stärker noch, das erkannte der Erzähler, als er sich vorn neben den Fahrer setzte, aus einem Zorn. Und dort ging ihm auch auf, daß er bei dem ersten Steinwurf, und auch später noch, bis zum Ansichtigwerden der kleinen Kinder, als Werferin, oder Organisatorin, ihm seine unbekannte Feindin durch den Sinn gegeistert war; sie sei ihm auf der Spur, auf den Fersen.
Auch die Geräusche des Busses, des Motors, hörten sich nun zunehmend an als Laute und Ausdrücke dieses Zorns. Es fehlten nur die Worte – sonst war alles da, was eine Zorntirade ausmachte. Der Fahrer ließ seinen Busmotor aufheulen, ließ ihn losbrüllen, dröhnen, kreischen, dröhnen, spucken, mit den Zähnen knirschen, jaulen, falschsingen, dräuen (ja), drohen, und das zusammen rhythmisch, in einem durchgehaltenen Taktgeben, das in eins ging mit dem Zornbeben in seinem Innern und etwas von einem instrumentalen Vorspiel hatte, jetzt wirklich vergleichbar jenen Anfangstönen auf der einen, der einzigen, der dickgeflochtenen Saite der balkanischen Gusla, einem nur scheinbaren Durcheinandergedröhn, in dem aber beim näheren Hinhören die Töne genau auseinandergehalten waren, als einzeln erkennbar, und zugleich doch einer den anderen gebend, eben als Rhythmik. Ein so wilder wie beherrschter, ja spielerischer Zorn scholl aus dem Motor und überdies dem ganzen Bus, die beide dem Chauffeur als seine Ouvertüre-Instrumente dienten, und auch
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