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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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staatenlos. Und immer möchte ich staatenlos bleiben. Apache, Apache. Kein Staatsbürgerschaftsnachweis und kein Paß, und meine Hymne nur: Apache, Apache. Kein Reisen lockt mich, und eure freie Welt kann mir gestohlen bleiben. Staatenlose aller Länder, bleibt, wo ihr seid und was ihr seid. Apache, Apache. Ausland, bleib weg von mir. Visum, für gleich welches andre Land, um deinetwillen kein Frühaufstehen und kein Schlangestehen. Apache, Apache. Für alle Zeiten beharren auf meinem Reservat, wo es den Adler zwar gibt, und wie, aber nicht als Wappenvogel. Stolz sein auf mein Reservat, wo beim Umriß eines Eichelhähers in einer Fichte ich nicht denken muß: Ah, unser Staatsvogel. Sich für alle Zeiten begnügen mit meinem Reservat, wo es in der Schule keine Prüfungsfrage gibt, die lautet: Und unsere Staatsblume? Apache, Apache. Bärenkot im Abendrot. Liebe nach Mitternacht. Graublau auf Gelb. Das Bellen der Hunde hindert die Wolken nicht am Ziehen. Alle Wege führen zur Mühle. Besser alleinsein als schlecht zusammensitzen. Der Essig erträgt nur seine eigenen Würmer. Du tanzt für den schlimmsten Affen, wenn es seine Zeit ist. Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn. Mögt ihr leben oder mögt ihr sterben: Hallo, meine Liebe, adieu, meine Liebe.«
    Es war längst Abend, als der Bus endlich den Fluß (hatten wir richtig gehört, »Ibar«?, »Abar«?, »Sabar«?, »Samar«?) überquerte, der nach dem Krieg zum Grenz-Fluß geworden war. Es handelte sich um eine Grenze ohne Kontrolle und ohne Schranken, und wenn sie überwacht wurde, so unauffällig, geradezu heimlich, auf beiden Seiten. Trotzdem war das eine Grenze wie nur je eine, und wie noch keine. Was vorher über eine nicht und nicht endende Strecke als ein ausgedehntes Niemandsland gewirkt hatte, das wurde in den paar Momenten auf der Brücke ein geballtes. Die Passagiere, die bei der Steinwurfserie zuvor keine Miene verzogen hatten, duckten sich wie unwillkürlich. Im Wasser, das schnell, aber nicht tief war, unter der weder besonders hohen noch langen Brücke, die mit einem einzigen Gasgeben fast schon überquert war, ragten Rohre heraus in das Dunkel, die nicht unbedingt Ofenrohre oder die von Häckselmaschinen darstellten. Und diesseits und jenseits des Flusses ließen sich im schwachen Licht der spärlichen intakten Grenzstadtlaternen Steinbauten erahnen, an denen das einzig Deutliche ihr Zertrümmert- und Ausgeweidetsein war – mit der Ausnahme freilich des einen und anderen Hauses hüben wie drüben, das nicht allein unversehrt, sondern darüber hinaus wie im Hochglanz, von innen und außen wie festlich, und auch friedlich, beleuchtet stand, umgeben von einem gepflegten, orientalisch-märchenhaft anmutenden Garten: trotz der Jahreszeit blühende Rosen, künstliche Kaskaden in ebensolchen Felsgebirgeminiaturen, Fackeln, die weißsandige Serpentinenwege säumten, und fast meinte man durch das Busgerumpel aus den Villen Schalmeien- und Lautenmusik klingen zu hören.
    Wie in einer Gegenbewegung zu dem Sichducken erhoben sich, als Brücke und beiderseitige Niemandsländer zurückgelassen waren, einige der Auswanderer von ihren Sitzen. Das sah aus, als bereiteten sie sich auf das Aussteigen vor, ein endgültiges. Dabei hatten sie noch eine weite Reise vor sich, die Nacht durch, mit einem anderen Fahrer, über mehrere, andersartige Grenzen, bis nach Belgrad, und vielleicht dann mit einem anderen Bus oder mit dem Zug über Novi Sad nach Budapest, oder nach Wien, und der und jener auch nach Kopenhagen, Lyon, Sevilla, Porto, einer vielleicht mit dem Flugzeug nach Kanada, doch hauptsächlich wohl mit Bussen – es gab ja Buslinien, die jeden noch so kleinen Balkanort mit ganz Europa verbanden. Einzig der Bus aus der Enklave Porodin hatte Belgrad zur Endstation.
    Es stiegen dann aber vor einem Hotel der durch den Krieg in zwei Teile zerfallenen Stadt alle aus, wenn auch nur für das da vorgesehene Nachtmahl. Wer endgültig ausstieg, das waren allein der Chauffeur, der hier die Rückkehr des Busses am nächsten Nachmittag abwarten würde, und er, der Einzelreisende. Er entschloß sich unvermittelt, die Nacht in dem Hotel zu verbringen, dem einzigen in diesem Teil der Zweivölkerstadt, die eine Grenzstadt war fern von jeder sonstigen, auf Karten eingezeichneten Grenze. Freie Zimmer gab es genug, er war der einzige Hotelgast; der Fahrer würde woanders unterkommen – vielleicht, weil er wirklich keinen Paß hatte, oder keinen vorzeigen wollte? Das Zimmer, unterm

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