Die morawische Nacht
ihr? hinter ihr? Ja, hinter ihr, weit, weit hinten. Ein eher altes Gesicht hatte die Frau gehabt. Und wie jung war die Stimme.
Er wünschte sich nicht in den Bus zu ihnen; hatte fürs erste überhaupt genug von den Bussen, selbst dem da mit dem Posthorn aus den frühen Jahren. Und trotzdem überkam ihn dann, allein unter dem nächtlichen Baum, den Dieselgeruch noch in der Nase, eine ihm neuartige, ihm nach all der geraumen Zeit seines Erdenwandelns (das war das von ihm gebrauchte Wort) gar nicht vertraute Einsamkeit. Es war ein Schmerz? Nein, es war, obwohl er sich weiter in der Gesellschaft der Auswanderer wußte, ein momentlanges Weh, das Weh der Verlorenheit? Nein, des Ausgestoßenseins. Momentlang? Nein, eine Sekunde lang. Es war jene zitternde Sekunde, die, ob weh oder nicht, mit den anderen zitternden Sekunden das Gefühl für das Dasein zeitigte, oder eben für den Erdenwandel; die erste auf seiner Reise.
Nicht in den Emigrantenbus wünschte er sich, aber doch weg von diesem Balkan, dem Balkan der Grenzstädte ohne dingfeste Grenzen, dem Balkan der tausend unsichtbaren, allesamt bösen und bitterfeindlichen Grenzen von Tal zu Tal, von Dorf zu Dorf, von Bach zu Bach, von Misthaufen zu Misthaufen, dem Balkan der steinschleudernden Kleinkinder, der menschenverachtenden Kußhände, des Knoblauchs, der die Vampire nur noch blutdürstiger machte. Weg wünschte er sich von diesem finsteren Balkan in die Lichterkettenmetropolen mit den sonor hupenden Taxis zwischen den Wolkenkratzerschluchten, mit den Brücken, auf denen jedes Liebespaar etwas wie ein Friedensgruß war, mit den Flüssen, wo auf den Schiffen Hochzeiten, Kindstaufen, Geschäftsabschlüsse gefeiert wurden, oder wo man bloß so, für nichts und wieder nichts, feierte, seinetwegen auch auf einem Schiff mit nachgemachten Schaufelrädern wie bei einem Raddampfer auf dem Mississippi mit dem Namen »Louisiana Queen«. Und zugleich wünschte er sich weg von diesem Balkan in den anderen Balkan, wie er ihn in den Vorjahren immer wieder erlebt hatte, so tief wie keine Gegend auf Erden, zum Beispiel auf seinem Wohnboot an der Morawa, wünschte sich, Schluß mit der Reise, zurück zu seiner »Morawischen Nacht«.
Zunächst freilich wünschte er sich nur ins Bett. Ein abenteuerlicher Tag war das gewesen. Natürlich (selten, daß ihm so ein Wort entschlüpfte) bedurfte er abenteuerlicher Tage. Möge ein jeder Tag abenteuerlich sein. Doch solche Abenteuer wie an dem ersten der Rundreise wollte er nicht. Es war ihm auch schwergefallen, uns davon zu erzählen. Schon in seiner Autoren-, seiner Aufschreibzeit begeisterten ihn und brachten ihn auf den Weg einzig andere Abenteuer. Was für welche? Andere. Nur solche entsprachen ihm. Nur für solche drängte es ihn nach einer Sprache. Und so kümmerte es ihn, nach all den eher widrigen Abenteuern, nicht, daß das Leintuch des Betts zerrissen war, in das einzige Handtuch Löcher gebrannt waren, der Heizkörper kalt blieb. Es war ihm sogar recht. Nach dem Tag gerade hieß das Frieden. Er öffnete fürs Zubettgehen weitmöglichst das Dachfenster und schaute in die Richtung der unsichtbaren Flußbrücke. Er meinte, das Wasser rauschen zu hören, und von den halbversenkten Panzerschießrohren kam, wie von einem Sturzbach, der über einen Felsblock schießt, ein Trommeln und ein Klingen. O Sprache. Wie das blühte, in den Gärten der Abwesenden und der Toten – wie das blühte und blühte. Wenn er, Gott gäbe es, von seiner Reise zurückfände, würde er über diese verlassene Brücke gehen, um den Kreis allmählich zu schließen. Die Brücke sollte sein Rückkehrpunkt sein.
(Auch das traf dann nicht ein …) Die Inka sind nicht ausgestorben. Sursum corda!
Die letzten Sätze sprach unser Gastgeber in jener Nacht mehr und mehr zu sich selbst, murmelte in sich hinein. Es schien, wir anderen hörten für ihn auf zu existieren. Das Bewußtsein der Gefahr brauchte er zum Erzählen? Aber auch das jetzt war eine Gefahr, eine von der ihm so nötigen grundverschiedene. Wie seit je war er bedroht, das Bewußtsein von den anderen zu verlieren, und das hieß, statt zu uns her schwingendes Reden, Alleingemurmel und schließlich in Stummheit Verfallen, auch vor sich selber. Er höchstselbst war, ob als Autor oder sonstwer, seine größte Gefahr. Wer von uns würde ihn dazu bringen, innezuhalten, so wie ein Hochseiltänzer, der ins Schwanken gerät, innehalten muß vor dem nächsten Schritt? Und wie ihn dazu bringen? Indem wir eine
Weitere Kostenlose Bücher