Die morawische Nacht
Bedrohung, eine äußere, erfänden? Ihm eine jener Gefahren vorgaukelten, die ihn aus sich herausschubsten oder auch bloß -kitzelten?
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Bevor er weitererzählte, wieder so klar, wie wir es von ihm gewohnt waren, zudem erwarteten, einmal mehr, einmal weniger, dachte er laut über die Zeit nach. Sie war seit jeher sein Problem, oder rückübersetzt ins Griechische, sein Vorwurf, auch »Vorgebirge«. Oft schon hatten wir ihn von ihr anheben hören, und jedesmal mit einem womöglich noch tieferen Seufzer: »Ach, Zeit …«, »ah, Zeit …«, »ha, Zeit …«. Und ein jedesmal war er in seinem sogenannten »Grundproblem« irgendwo steckengeblieben, und so geschah es, zu unserer und ebenso seiner Erleichterung, auch diesmal. »Nein«, sagte er ungefähr: »Die Zeit, sie war und ist mir kein Problem, vielmehr ein Rätsel. Im Dasein, in dem einen Leben, am Anfang ein reines Rätsel, das reinste Rätsel, das Rätsel der Rätsel, das Rätsel pur, und dann, mit der Zeit, nein, wider sie, ein furchtbares Rätsel, der Deckname für Tod, oder auch bloß für Langeweile, mit mir und meiner Zeit Nichts-anfangen-Wissen. In dem einen Leben, im Dasein, vergeht mir bis heute die Zeit entweder viel zu schnell oder viel zu langsam. Im Erzählen dagegen, in meinem anderen Leben, erschien mir die Zeit, von Anbeginn bis jetzt, und jetzt, und jetzt, als ein fruchtbares Rätsel, nein, weg mit dem Wortspiel: als ein herrliches Rätsel. In dem einen Leben beklemmend, in dem anderen herrlich. Auch da, im Erzählen, weiß ich mit der Zeit nicht umzugehen. Aber da spüre oder ahne ich zugleich, sie, die Zeit, die liebe, ist auf meiner Seite, und ich, sowie es bei meinem Erzählen nur mit rechten Dingen zugeht, bewege mich, nein, fuße, auf ihr. Und das macht, scheint mir, daß in der Erzählzeit, im Unterschied zur Zählzeit – für mich im Alltagsleben gar zu oft, so oder so, eine Zählzwangszeit –, statt der übermächtigen, allgemein vorgegebenen, -schriebenen Daten sich Formen, oder auch bloße Formeln der Zeit anbieten, mit deren Hilfe ich spielen, nein, springen, ja, forschen und die geltende Zeit vergessen kann. ›Im letzten Sommer …‹, ›Im folgenden Winter …‹, ›Als der Krieg ausbrach …‹, ›Als meine Schwester noch sprechen konnte …‹, ›Ein Jahr später …‹, ›Kurz vor Pfingsten …‹, ›Zu Anfang des Ramadan …‹, ›Am Morgen des folgenden Tages …‹, ›Am Abend des dritten Tages …‹, oder auch nur: ›Und dann … und dann …‹, oder gar nur: ›Und … und … und …‹ Die Zeit im Erzählen: herrliches Rätsel? Oder doch ein Problem, aber eben ein herrliches? Oder nein, ein phantastisches? Ein befreiendes? Ein begütigendes? O Zeit … He, ihr Zeiten! – Und was denkt ihr?« – Worauf wir, nicht viel anders als er, jeder an seinem Tisch in dem Bootssalon der Morawischen Nacht, in ein Kopfwiegen verfielen, bei dem freilich nichts weiter herauskam als ein Summen hier, ein Brummen dort, ein Hm-hmen dort, ein Geräusper, ein Geschnauf, ein Geseufze – nichts, was den Bootsherrn zum Weitererzählen gebracht hätte. Das bewirkte dann, endlich, ein Knall, ein heftiger, in der Bordküche, auch wenn der, oder nicht? ja, doch!, nur vom Entkorken einer Flasche kam, die einen Augenblick später, wie schon in der Nachtstunde zuvor, uns von der rätselhaften Unbekannten aufgewartet wurde. Unser Gastgeber, schreckhaft wie seit jeher, ohne dabei ängstlich zu sein (Unterschied), war bei dem Geräusch zusammengefahren, ebenso wie die Froschmyriaden im Uferschilf der Morawa für eine Sekunde (und ein wenig darüber hinaus) verstummt waren, mitsamt der in einem fort flötenden, Ton für Ton vorhersehbaren Eule im Auenland, und ebenso wie all die vereinzelt bellenden Hunde im fernen Porodin momentlang ein einhelliges Nachtgeheul ausgestoßen hatten. Dann aber seine Stimme umso ruhiger, und tiefer, wenn auch zuzeiten, nein, zeitweise leicht zittrig, und was er sprach, wie gesagt, klar, einmal mehr, einmal weniger. »Am Abend des folgenden Tages«. »Geraume Zeit später«. »Nach vielen weiteren Flußüberquerungen«. »Hinter sieben Bergen dann«. »Binnen dreier Gehtage«. »In einer Autostunde«. »Vor dem Abflug«. »Während des Weiterflugs«. »An einem stürmischen Morgen«. »Mitten in einem Gewitter«. »In der Stunde seines Todes«. »Zur Zeit der Schneeschmelze«. »Und dann …«. »Und dann …«. »Und dann …«
Geraume Zeit mußte vergehen auf seiner Rundreise, bis es ihn nicht mehr
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