Die morawische Nacht
Dach, ging auf die Brücke, die kenntlich war fast nur als noch schwärzere Dunkelheit hinten unten in der Stadtdunkelheit. Am hintersten Horizont die Umrisse der Abraumhalde des örtlichen Magnesitwerks, das seit Jahrzehnten still lag. Hier war kein Profit mehr zu machen, nie mehr? Ein Gesteinsbrocken kam ins Rollen und klirrte auf einen anderen. Weithin ließ sich das hören, so ausgestorben wirkte die Grenzstadt.
Er aß an einem Tisch mit den Weiterreisenden zu Abend. Er war von ihnen eingeladen worden. Sie schienen enttäuscht, daß er nicht mit ihnen fuhr. Wir Zuhörer in jener Nacht auf dem Morawaboot nickten dazu, weil wir die Leute verstanden. Wie konnte er sie so ihrem Schicksal überlassen, oder doch wenigstens nicht weiterhin dessen Zeuge sein? Sicher hatten sie doch mit der Zeit gespürt, wer er war, jedenfalls kein ganz Fremder, auch kein Beobachter, oder ein versteckter Reporter, und jedenfalls auch nicht ihr Feind? Wenn sie enttäuscht waren, so zeigten sie ihm das nicht. Sie waren, einer nach dem andern, nur noch gastfreundlich, und nichts sonst mehr. Der Hotelsaal war ihr, der Emigranten, ureigenes Eßzimmer (es gab also doch noch Worte mit »ur-«?), und er sollte sich da als ihrer aller Gast fühlen. Solche Gastfreundlichkeit hatte, ohne daß besonders gefeiert wurde, und nicht bloß nach dem langen Tag miteinander, etwas Festliches. Ein festlicher Zug ging davon aus und um den Tisch, die Tafel, herum, an der man eher still aß und trank, Speisen und Getränke, die von den Aussiedlern eigenhändig aufgetragen wurden, aus Küche und Keller, als seien sie von ihnen höchstpersönlich, als den Wirtsleuten, zubereitet beziehungsweise gekeltert worden. Und als der Bootsherr erzählte, woraus das Grenzstadt-Nachtmahl, ah, lang war das wieder her, im einzelnen bestand, lief uns auf seine »Morawische Nacht« Geladenen, obwohl wir doch gerade von der unbekannten Schönen erlesen bedient worden waren, bei aller herzhaften Gesättigtheit, einem jedem an seinem Tisch, sage und schreibe das Wasser im Mund zusammen, und wir fühlten eine Art Sehnsucht, den gleichen Wein wie die Tischgesellschaft damals zu trinken, mochte der auch in Bälde nicht mehr nach einer Amsel, sondern nach einem Adler heißen.
Er begleitete sie dann noch zu ihrem Bus. Gelb stand der in der täuschend stillen Grenzstadtnacht, unter einem Baum (auch hier war kein Abstellplatz vorgesehen). Der Baum war eine Linde, zu erkennen jetzt im Winter an ihrem geraden Stamm und den besonders regelmäßigen parallelen Senkrechtrissen in der hellen Rinde, und zugleich an dem Blätterwerk, das ungeachtet der Jahreszeit fast vollzählig, nur eben verwelkt, im Baum geblieben war, so als sei diese Linde, lipa, da zu alt und/oder zu schwach, ihr Laub abzuwerfen, oder/und wo sie stand, gebe es keinen Wind. Bis zu diesem Augenblick hatten ihn die Auswanderer ebensowenig gefragt wie er sie. Doch nun im Einsteigen hielt der erste von ihnen auf dem Trittbrett inne, was auch die Nachfolgenden stocken ließ, und sagte, den Kopf über die Schulter wendend, daß die Lederjacke krachte, etwas, das ebenso eine Feststellung sein konnte wie eine Frage: »Du bist ein Advokat(?).« Und schon der nächste, ebenso: »Du warst einmal Bauer(?).« Und ebenso eine Dritte: »Du bist von einer Insel(?).« Und noch eine: »Du bist ein Witwer(?).« Und wieder einer: »Du bist ein Vaterloser(?).« Und dann einer: »Du bist ein Heimatloser(?).« Und dann einer: »Du warst einmal Fußballer(?).« Und einer: »Du hast Geld(?).« Und: »Du bist kein Zeitgemäßer(?).« Und: »Du bist ein Schütze(?).« Und: »Du bist ein Menschenfeind, mein Bruder(?).« Und: »Du bist kein Fremder(?).« Und ganz zuletzt noch: »Du bist ein Unsriger(?).«
In dem abfahrenden Bus hob unvermittelt eine Frau an zu singen. Das war nun keine Highwaymusik mehr wie das »Apache«, auch kein Magistralenlied. Es war der Gesang aus dem tiefen Balkan. Gab es den überhaupt? Ja, zum Beispiel in dieser Stimme jetzt. Töne, so lang ausgehalten, daß die Stimme sich mit der Zeit dann anhörte als ein Instrument und weiter, Ton für Ton, eine Stimme blieb, Stimme und Instrument in einem. Und das vielleicht noch stärker Bezeichnende: nicht die besondere Frau da schien zu singen – kurz zeigte sich noch am Busfenster ihr bei dem so gleichmäßigen Laut- und Lauterwerden, der Mund kaum einen Spalt geöffnet, vollkommen unbewegtes Gesicht –, vielmehr jemand anderer, Dritter, Unsichtbarer, über ihr? unter ihr? neben
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