Die morawische Nacht
Tatsache, daß einem selber der Lärm woanders als in der eigenen Umgebung, in der Fremde, wo man doch zu Besuch war, zu Besuch sein durfte, gleich hart zusetzte wie daheim. Daß man losschreien und ihn, in einer portugiesischen Bar oder in einem schottischen Pub oder in einem tschechischen Bierwirtshaus, sich verbitten wollte. Daß man jenseits der ehemaligen Grenzen, nichts als ein Gast dort, den erstbesten behelmten Aufheulchampion in der Vorstellung genauso von seinem Fahrzeug ballerte wie den gleichen, denselben bei sich zuhause. Der eine erklärte diese innere Geräuschabwehr da wie dort wieder mit der da wie dort unterschiedslos gewordenen Lautstärke: auch für sie, die sozusagen Leidtragenden, galt kein Ausland, galten keine Grenzen oder Schwellen mehr. Der andere: Nein, der Inland- oder Heimatlärm habe ihn mit der Zeit so krank gemacht, daß seine Ohren selbst im entferntesten Winkel der Erde dort nicht als die eines Reisenden, eines Gasts, eines Eingeladenen reagierten, sondern, unheilbar, als die eines Kranken. Und wieder ein anderer: Nein, krank sei er, seien sie alle hier schon von vorneherein gewesen, seelisch krank, vielleicht schon geboren mit einer Mangelkrankheit der Seele, einer rätselhaften, bislang unerforschten – und erst infolge dieser Krankheit sei der Lärm für ihn, für sie zu solch einer Plage geworden, oder es würden die vormals harmlosesten Geräusche als Lärmattacke empfunden – siehe im übrigen die Neugeborenen aller Länder, wie sie, seit wann wohl?, zusammenführen und sich verkrampften schon, wenn ihnen der Schnuller zu Boden fiele.
Einig waren sie sich wieder darin, daß, warum auch immer, der zarteste Laut tumultartig über einen herfallen konnte, und daß selbst die Stille zeitweise zu einem Getöse schwoll, vor dem man sich in einen leibhaftigen Krach flüchten wollte. So wie bestimmte Bilder einen nicht freiließen, auch wenn man, in der Zeit und im Raum, längst weit weg von ihnen war, so tat auch ein Lärm, den man als einen bösen und feindlichen erlebt hatte, nach seinem Verstummen in der Außenwelt im Innern weiter und weiter. Man realisierte die Stille nicht mehr. Das taglange Sirren sirrte während der Nacht in den Träumen weiter. Das Schrillen von Metall auf Metall verfolgte einen in die Wüste. »Das Rumpeln, Kreischen, Knallen, Trillern, Gellen höret nie mehr auf«, sang der, in seinen eigenen Worten, »absolut gehörgeschädigte« Wandermusikant beim Abschiedsfest am Abend des dritten Tages, »der Lärm frißt meine Liebe auf«.
Nicht bloß zeitweise lärmkrank waren sie, die von der Tafelrunde, sondern beständig; endgültig. Und wie äußerte sich des weiteren ihre Krankheit? Einer zum Beispiel empfand schon die zarteste Musik als böswilligen Lärm und hielt sich bei den ersten Mozart- und Schubert-Takten die Ohren zu, was er damit erklärte, daß gerade diese Töne vor noch nicht gar langem Teil einer Angriffsstrategie gegen sein Stammland gewesen seien: alle die innigen Sonaten und Lieder seien eingesetzt worden nicht etwa für den Nachklang der Stille – was mehr vermöge Musik zu bewirken? –, sondern um die bei ihm angestammte Musik bloßzustellen als Unkultur, und bloßzustellen darüber hinaus auch sein Land; seitdem gehe ihm gleichwelches Innige, dem er früher doch angehangen habe, schon im Auftakt zum Auftakt, noch bevor es sich so recht hören ließe, durch Mark und Bein, und man könne ihn damit jagen. Ein anderer fuhr zusammen bei dem leisesten Windstoß. Noch ein anderer warf sich in Deckung, wenn einer seiner Mantelknöpfe gegen eine Türklinke klickte. Und wieder einer warf den Kopf herum beim Knarrgeräusch seines eigenen Schuhs. Weit weg gellte ein Fasan, giekste ein Bleßhuhn, und man hörte sich aus dem Weg geklingelt von einem Querfeldeinradfahrer, oder ein Unbekannter knipste sich gleich neben einem bedrohlich die Fingernägel ab. Ein Angelauswerfen hörte man als das Angeblufftwerden von einem Köter. Aus dem Rauschen eines Gebirgsbachs drang statt der einstigen Märchenstimme das Geplapper und Geschnatter der weltweiten Fernsehconférencen. Ein kleiner Bleistift fiel – so liebes Geräusch einst –, und man fuhr zusammen, und sogar beim Fall, nein, Aufprall der weichsten Weintraube. Der ehemalige Kartäusermönch berichtete, das Schlurfen der anderen Schweigemönche habe ihn auf Selbstmordgedanken gebracht. Ein Häherschrei, und es rotzte ein »Jogger«. Was einmal aufhorchen ließ wie nichts sonst, alle die heimlichen
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