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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Geräusche wie das Auftreffen eines Blatts auf eine Wasserlache, das Knistern der Weizenähren, das Platzen des Springkrauts, ließ jetzt zusammenzucken.
    Allgemein betrachtet, wurde dann klar, daß der Grundzug der Geräuschkrankheit eine Art Raumverlust war. Das Raumgefühl kam durcheinander. Was unvermittelt fern sich hören ließ, rückte auf den Leib. Leibesinnere Geräusche bedrohten einen von außen. Ein Dröhnen tief unter der Straßendecke erscholl oben aus dem Zenit. Ein Helikopter surrte auf am Horizont, und man schlug nach einer Wespe. Das konnte so weit gehen, daß man beim Knurren des eigenen Magens einen Schritt zurückwich. Der Indianer hätte sich während der drei Tage, sollte man meinen, eingewöhnen können in die Geräuschwelt des anderen Kontinents – und sah, hörte sich, auf seinen Gängen hinaus in die hiesige, europäische Steppe bei jedem Aufgluckern einer Quelle, eines Rinnsals im Gras zurückversetzt zu dem Geglucker aus den Brandyflaschen seiner Stammesbrüder, und sooft er bei seinen Gehöftrundgängen an das allgegenwärtige Dekor, die Ketten in den ehemaligen Ställen und Scheunen, im früheren Korral stieß – das ließ sich kaum vermeiden –, klirrte wieder und wieder die Kette durch die Luft, mit der sein leiblicher Bruder da-dort auf ihn losgetorkelt war.
    Wer war schuld an ihrem Kranksein? Sie selber, auch da wurden sie sich dann einig, trugen keine Schuld. Ihnen allen war doch einmal gemeinsam gewesen, daß ihr Aufnehmen des Weltgeschehens vordringlich durch Hören geschah: »Aufhorchen – hören – sich einhören«: so der ehemalige Wandermusiker. Der lärmwirre Schafhirt, pastor , hatte schon als Kind alles liegen und stehen lassen, um an den Waldrand zu laufen, sich dort still hinzusetzen und dem Bäumerauschen zu lauschen, Stunde um Stunde – jedes Spiel und jedes Buch hätte er dafür gegeben, würde er immer noch geben –, wäre nicht selbst das Blätterrauschen in seinen Ohren inzwischen etwas Böses geworden. »Ich war von Kopf bis Fuß auf Hören eingestellt«, sang der Wandermusikant. Und der entkuttete Kartäusermönch respondierte: »Daß ich von kleinauf und von grundauf auf das Hören aus war, das heißt, daß meine Seele gesund war. Ach, gib mir ein liebes Geräusch, und so wird meine Seele wieder gesund.«
    Niemand und nichts war schuld an ihrem Zustand: auch darüber einigten sie sich (obwohl der eine oder der andere zunächst Schuldige suchte, etwa die, schien es zumindest, große Masse der Lärmunempfindlichen, derer, die taub für den Krach waren, »die wahren Kranken«, »die von Anfang an Kranken, die ohne Bewußtsein von ihrer Krankheit uns andere krank machen«). Wenn keine Schuld, so doch Verantwortlichkeit. Dazu meinte einer aus der Runde, Lärm und Gepolter habe es zwar seit jeher gegeben, aber das zunehmend, und weiterhin zunehmend, als böse, ja, als zerstörerisch Erlebte sei mittlerweile die Jähheit der Weltgeräusche, ihre Überfallsartigkeit. So viele der heutigen Dinge seien gleichsam Lärmminen, die von einem Moment zum nächsten loskrachen könnten. Was etwa einmal das Ausrutschen der Kreide auf der Schultafel im Gehör ausgelöst habe, oder ein Fingernagel auf einer Fensterscheibe, das könne jetzt längst gleichwas besorgen. »Es lauert ein Lärm in allen Dingen«, sang dazu der Wandermusikant. »Es flüstert der Asphalt, es lärmt der Teppich. Es flüstert das Liebespaar, es lärmen die Kopfhörer. Es lispelt am Busento, es kracht am Himalaya.«
    Bemerkenswert war ihm, dem Zuhörer, daß die Runde das durchweg in einem fast heiteren Tonfall vortrug, nicht lautstark, aber auch nicht extra leise. Die Stimmen blieben unauffällig. Während der Berichte war von der Geräuschekrankheit nichts zu spüren – bis auf die Augenblicke allerdings, da sich der kongreßzentrumseigene Gesprächsleiter einmischte: Beim Ertönen seiner hörbar geschulten, sonoren, weichen und wie beruhigenwollenden Stimme krümmten sich sämtliche Teilnehmer nicht ganz unmerklich zusammen, und Gesicht für Gesicht verlor seine Linie. Nicht daß sie sich die Ohren zuhielten. Dafür aber sah man ihre Handknöchel weiß werden im Versuch der Selbstbeherrschung. Nicht wenigen tropfte ebenso der Schweiß von der Stirn. Nein, das war nicht insgeheim eine Belustigung. Die Stimme des Conferenciers wirkte als Folter. Es war ein Schmerz, der Schweiß hervorrief – beinah wäre ihm in jener Nacht auf der Morawa ein »Sage und schreibe« herausgerutscht –, ein

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