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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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nicht? Wo sind wir einander bloß begegnet?«, zu ihr an den Tisch zu setzen. Und wie dann weiter? Entsprechend dem Ideal, dem er früher einmal zu folgen versucht hatte, wenn er an einem Buch oder an einer langen Geschichte schrieb: es geschehen lassen. Mit großen Schritten ging er, der sonst im Leben, wenn nicht von der Schwellenangst, so doch von der Schwellenscheu zu einem oft übertrieben anmutenden Innehalten gebracht wurde, zwischen den Bäumen auf sie zu, in Sorge, er könnte sie versäumen, der Tisch wäre bei seiner Ankunft leer – ein anderer Traum, der dazwischenfunkte in den, der ihn weiterhin so frech und verwegen ausschreiten ließ. Und später, in seinem Argwohn getrieben zu noch Schlimmerem, kam noch ein dritter Traum dazu: sein Schutzengel, der ihn auf dem bisherigen Weg oft und oft vor dem Hinfallen und Stürzen bewahrt hatte, bewahrte ihn da vor dem Zusammentreffen mit der Frau, indem er ihn, unterwegs zu dem Tisch, mit dem Schädel gegen einen Baum prallen und der Länge nach hinschlagen ließ, außerstande, je wieder aufzustehen.
    Was geschah dann zwischen den beiden? War überhaupt etwas geschehen? so die Frage von uns anderen in jener Morawischen Nacht, freilich nur insgeheim, still selbst der eine Vorlaute unter uns. Die beiden, der Gastgeber und seine Fremde, machten keinerlei Andeutungen. Entweder hatten sie keine Worte dafür, oder es war kein Thema für sie, kein Erzählthema. Gerade eine Ahnung gestatteten sie uns. Das einzige Anschauliche, das sie voneinander preisgaben: daß sie später in der Nacht gemeinsam zu Boden gefallen waren – vor Müdigkeit, vor Erschöpfung. Und schon indem ein jeder der zwei beim Reden für sich blieb und den andern nie anschaute, stand jede Anspielung außer Frage. Es war aber etwas geschehen mit ihnen dort im Eukalyptuswald, und das sprachen sie auch aus, einmal er, einmal sie. Es begann für sie zwei da ein anderes Zeitmaß. Und wann setzte das andere Zeitmaß ein? Wo? Womit?
    Das andere Maß trat in Kraft mit dem Moment, da sie Augen füreinander bekamen, gleichzeitig. Und mit dieser Gleichzeitigkeit wurde ihnen beiden der Auftakt gegeben für die Folgezeit. Es war vor diesem Maß kein Entkommen, und sie wollten das auch nicht, obwohl er, der Mann, anfangs noch seine eingefleischten Ausweichreflexe zeigte, etwa indem er, von der Frau erblickt, versucht war, hinter sich zu schauen, als sei jemand anderer gemeint, oder wegzuschauen, als sei nichts, worauf das Maß wieder außer Kraft getreten und in der Tat nichts gewesen wäre.
    Das andere Maß hieß: Übergang in ein anderes System, Übergehen von der einen Welt in eine zweite, die, für ihre besondere Zeit, mit genau so großem Recht Welt genannt werden konnte, Übergehen in ein anderes Weltgeschehen. Und jetzt in der Nacht kam ihm das Erinnerungsbild, wie er, angesichts ihrer gesenkten Augenlider in der Sonne, bevor sie ihn zuletzt anblickte, überzeugt gewesen war, sie lese da vor der Herberge in einem Buch, eines, das, so schloß er aus ihren keinmal zuckenden Wimpern, ein Buch war von der Art, wie er es sich immer erträumt hatte in der Hand eines erträumten Lesers – und wie die auf den Knien liegenden Hände der Frau, die Handteller gewölbt und nach oben gekehrt ähnlich denen der Aussiedler in dem Enklavenbus, leer gewesen waren. Und gleichzeitig die Schrecksekunde. Süßer Schreck? Ein zugleich durch Mark und Bein schießender.
    Und mit dem anderen Maß zugleich auch ein anderes Licht, und zwar kein etwa helleres, nein, ein entschieden dunkleres, ein düsteres, eine Art Finsterlicht, mitten am Tage ein Nachteinbruch, das Sonnenlicht außer Kraft gesetzt von einer jähen totalen Sonnenfinsternis, mitsamt dem dazugehörigen Eiswindstoß. Kreisblende eines Films, das die zwei da Umgebende einschwärzend und in dem Kreis zuletzt nur noch ihrer beider Gesichter zeigend, wie am Ende eines Films? Weder war das ein Film, noch ein Ende. Und wenn eine Frauengeschichte, so eine, die einmal nicht damit begann, daß die Frau von ihm, dem Mann, ihre Rettung erwartete. Sondern was für eine? Eine, so seine Antwort – auf die eigene Frage – in jener Nacht auf der Morawa, die die verkörperte Herausforderung war; die ihn stellen würde, wie man einen Flüchtigen stellte, oder ein Wild, oder einen Gauner; die ihn zum Kampf rief. Wie denn das? So war es gedacht, und so sah er es. Oder ging es doch um Rettung? Denn etwas Leidendes, nein, schrecklich Entbehrendes ging von der Fremden aus. Und ein zweites

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