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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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hatten, so der Verheißungstraum, die geträumte Verheißung, seine Kühnheit. Nichts, was einen so wecken konnte wie ein Traum, »ein solchiger«. Mochte es auch eine Täuschung sein: er empfand sich an dem Tag danach unverwundbar. Der Traum umgab ihn als Rüstung, in der nirgends ein Durchkommen, Durchstoßen, Durchstechen wäre. Und es war stärker als bloß eine Täuschung: wie sonst hätte der eine Wildhund, in dem er wieder den von der Abfahrt in Porodin erkannte, löwenhaft ausgewachsen, ihn nach dem ersten Knurren friedlich begleitet, ihm dann gar vorauslaufend durch das Unterholz wie ein Kundschafter, sich nach ihm in einem fort umwendend, ob er ihm wohl auch folge? Wie sonst wäre der eine Wegelagerer, auf dem Pfad durch das Unterholz dann, die Ruine schon zu ahnen, bei seinem Nahen zu einem Korbflechter geworden, der sein Messer, was denn anders, einzig zum Abschneiden der Weidenruten – wo Weiden, da Wasser – ansetzte?
    Und wie der Traum taglang seine Rüstung abgab, so schickte er ihm auch den Schutzengel, den einen, ihm persönlich zugedachten. Immer wieder trat er, über die oft spiegelglatten Granitbarrieren kletternd, ins Leere und wurde von dem Engel, wer weiß wie, vor dem Sturz bewahrt. Zwar wäre der in der Regel nicht gar tief gewesen, aber, mit einem gebrochenen Bein, wie aus der Wildnis je herauskommen? Und nicht mehr das Wort »Gespür« war dabei jeweils am Platz, sondern buchstäblich der »Engel«. Sein Engel war es, der ihm im letzten Moment, im Rutschen, im Fastfall, das Gleichgewicht wiedergab. Keine Rüstung hätte ihn dann geschützt. Und gar viel hatte sein Engel zu tun an diesem Tag. Denn die Kühnheit machte den Küsten- und Quellenstürmer andrerseits unbedacht. Jedes Eingreifen des Engels sollte zugleich eine Warnung sein. Und seine Warnungen wurden im Lauf des Tags immer dringlicher. Auf eine letzte Warnung folgte noch eine allerletzte. Zwar wurden sie gehört und eine Zeitlang auch beherzigt, aber, in dem ständigen Blauen und in dem Zitronenfalterwind, dann ein jedesmal wieder vergessen.
    Und so sollte er ja zuallerallerletzt, jedes Warnen vergebens geblieben, hinstürzen zu der Frau. Vorher freilich die Ankunft bei der Ruine, allein. In deren Umkreis würde er sie treffen, nicht gleich, später am Tag. Zwiegespalten fühlte er sich dabei: Einerseits wußte er es so, wie man schon beim Abschießen eines Pfeils wußte, der würde ins Schwarze treffen; andererseits war sein Zustand vergleichbar mit dem vor dem Ausbruch einer lange nicht mehr eingetretenen und überdies fast vergessenen Krankheit: Es genügte, daß diese einem in den Sinn kam, ohne Symptome und ohne irgendeine Beschwerde, nicht einmal als Erinnerung, bloß so als Name, und das war, jedenfalls was ihn anging, fast ein sicheres Zeichen, die gedachte Krankheit stünde unmittelbar bevor, und mit ihr eine schlimme Zeit.
    Erst einmal aber betrat er die dach- und türlose kleine Kirche, eher eine bloße Kapelle, zu der durch die Halbwildnis nur ein Netz von Trampelpfaden führte. Vor ihm in der Apsis das Fresko, unversehrt, in Form einer Mandel, aus der heraus, die dunklen Augen auf den Ankömmling gerichtet, der Weltenrichter ihn segnete, oder verdammte, oder bloß so befragte; zu seinen Häupten der blaue Atlantikhimmel, statt des Möwendurcheinanderfliegens ein einzeln spiralender Milan; auf dem schuttgesprenkelten Boden – Erde, keine einzige Steinplatte mehr – Stalagmitenhaft Hunde- und Fledermausdreck; in seinem Rücken, gleich hinter der granitenen Türschwelle, die unversehrt geblieben war, die Bachquelle, zugleich Miniaturmeeresbucht fern dem offenen Meer, auch beides gleichzeitig, simultan, jetzt im Augenblick, indem die Flut, hier an ihren Endpunkt im Landesinnern gelangt, bevor sie gleich zurückweichen würde, mit ihrer letzten Schubkraft dem ihr entgegenströmenden Quellwasser, es stauend, die Waage hielt, ein seltsames Schaukeln auf und ab, zwischen den zwei Wässern, und dazu, unter Haseln und Weiden, der glimmerglitzernde Sand, aus dem die Quelle herausbrach, mit den von der Flut dahergeschwemmten Muschelbruchstücken und Scherenteilen von Meerkrebsen, als Teil eines Strands, mit der Kapellenschwelle als Bootsanbindeplatz, ohne das Boot, aber mit dem entsprechenden Geruch. »Zwischenwässern«: hieß so nicht auch sein, des Erzählers der Morawischen Nacht, Herkunftsort? Wie es ihn, den Feuermenschen, doch seit jeher ans Wasser zog, ans fließende.
    Und wo begann sie endlich, die Geschichte mit

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