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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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der Frau? Genug hinausgezögert! Und er hätte sie womöglich noch weiter hinausgezögert und wieder einmal den Moment verpaßt, wäre in jener Nacht auf der Morawa nicht unversehens die Fremde aus der Schwingtür zur Bootsküche getreten und für ihn eingesprungen. Sie war es, die anfing mit ihrer beider Geschichte, und er schien zunächst darüber erleichtert, so als hätte ihm der Einsatz gefehlt. Dann freilich übernahm er das Erzählen, was sie ihrerseits nicht durchwegs dulden wollte. Immer wieder nahm sie ihm die Worte aus dem Mund, weniger um ihn zu korrigieren – auch das, einmal, ein einziges Mal, gegen Ende –, als um Anteil zu haben an dem Geschehenen, es für sich selber zu wiederholen und zurückzuholen, oder gottweißwarum. Es wurde aber keinmal ein Zwiegespräch daraus. Nie war die Rede von einem »Ich« oder einem »Du«, und selbst das »Wir« ließ lange auf sich warten, fiel erst bei der Schilderung vom beiderseitigen Abschiednehmen. Bis dahin: Wenn überhaupt persönliche Fürwörter, so fast allein entweder das »Er« oder das »Sie«, wobei »sie« in der Regel von ihm kam, und »er« von der Fremden (fremd für uns Zuhörer im Bootssalon), ausnahmsweise ein »man«, un- oder überpersönlich.
    Einer der Trampelpfade weg von der Quelle, die zugleich Meeresstrand war, führte zu einer Herberge. Diese lag mitten in einem Wald. Die Baumart tut nichts zur Sache. Oder, ja, doch: Eukalyptus – so weit nach Norden, bis ins früher einmal so rauhe Galizien, war der in der Zwischenzeit also vorgedrungen. Licht war dieser Wald da, wegen der so hellen Eukalyptusrinden, und auch, weil die Bäume beträchtliche Zwischenräume bildeten und darin zudem, wenn überhaupt etwas anderes, nur spärliches Niedergras wachsen ließen. Und so lag die Herberge wie an einer Lichtung, ohne daß da eigens eine solche ausgeholzt worden wäre. Das Erdgeschoß diente als Wirtshaus mit einer Terrasse davor, deren Tische und Stühle fast den ganzen kleinen Wald einnahmen. Rund um ihn das Quellendickicht mit den Trampelpfaden, auf deren einem er in das Eukalyptuslicht stolperte, davon geblendet, sich mit der Hand die Augen beschirmend, ohne dabei aber von der Existenz der Herberge fernab von allem sich irgendwie überrascht zu zeigen: so war es ja geträumt, gedacht, geplant.
    Er brauchte lange, bis er sie entdeckte. Die Gaststätte, für ihre Entlegenheit, war gefüllt fast bis auf den letzten Platz, bis hinten an dem einen Eukalyptus schon nah am Buschrand; zugleich ohne Lärm, die Geräusche so in einem gedämpften Gleichmaß aus Stimmen und Schritten, darin eingesponnen auch das Tellerklirren und Gläserklingen, und selbst das Schreien der Kinder und des an einen Baum gebundenen Esels, ein Gleichmaß, das sich vielleicht auch aus der Vorfrühlingsluft bezog. Ein Ausnahmezustand; einmal ein anderer; ausnahmsweise. Und sie, die Frau, saß an dem hintersten Tisch im Freien. Allein? So war es gedacht. Und er allein wie sie, ohne Angehörige im Rücken – zwei Waisenkinder – zwei Freie! (So der erste, der umfassende Gedanke.) Und sie erkannte den Neuankömmling, den Mann, von weitem. Doch nicht etwa ihn, den gesamteuropäischen Autor, oder Ex-Autor? Unsinn: Sie erkannte den Mann dort, und mehr war dazu nicht zu sagen. Und er: Sie kam ihm gleich bekannt vor. Ja, war das nicht die dritte Gasthörerin, neben ihm und dem Dichter Juan Lagunas, während des – lang war auch das wieder her – Geräuschesymposions damals bei Numancia? Wenn, dann hatte sie sich für das Treffen dort aber verkleidet. Abgesehen von der schwarzen Hornbrille: Geradezu vermummt war sie alle die Tage gewesen, ein Tuch um den Kopf, bis tief in die Stirn, und so nicht nur bei den Vorträgen, sondern sogar beim Abschiedsfest, fast wie eine Abgesandte aus irgendeinem Arabien, unzugänglich, mit niemandem ein Wort wechselnd, auch so unansehnlich, daß man an ihr vorbeiblickte. Und jetzt: Die offenen Haare, Wind darin, obwohl kein Wind ging, »oder waren das Schlangen?«, so fuhr für eine böse Sekunde sein ewiger Frauenargwohn dazwischen, aber der sprach da nicht aus ihm selber; die nackten Schultern, die Sonne auf den glatten gewölbten Lidern – auch dazu war mehr nicht zu sagen. Warum nur war sie derart verkleidet gewesen? Was hatte sie ausspionieren wollen? Oder wen?
    Diese Fragen des Argwohns kamen ihm aber erst viel später, in der Periode ihrer zweiten Abwesenheit. Jetzt galt einzig eines: zu ihr hingehen und sich wortlos, ohne ein »Kennen wir uns

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