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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Mal, noch verstärkt: süßer und zugleich durch Mark und Bein schießender Schreck.
    Und sie? Wie reagierte sie, nach wie vor abseits von ihm in der Schwingtür stehend, wie er weiterhin nur an uns andere gewendet? Sie tat das, was sie auch damals bei ihrer beider erstem gemeinsamen Augenblick im galizischen Eukalyptuswäldchen getan hatte: Sie lachte, ein Lachen von einer Heiterkeit, wie wir es sonst nur bei manchen Kindern gewohnt waren, nur leider zu kurz, als daß sie uns damit angesteckt hätte.
    Aber wir spürten, das würde in dieser Nacht nicht ihr letztes Lachen gewesen sein.
    Das eine Wort, das sie damals vor der Herberge anschließend zu dem Mann gesagt hatte, während sie ihm zugleich den einen, wie eigens für ihn freigehaltenen Stuhl hinschob, kam dann in der Erzählung von ihm: »Endlich!« hatte sie gesagt. »Endlich ein Ebenbürtiger.« Oder sie bildete sich das bloß ein? Und wenn. Und sie hielt sich dann die Hand ans Ohr für seine Antwort, als könnte die nur aus weiter Ferne kommen.
    In der Erzählung von der Zeit miteinander – wo? wo auch immer – kamen die beiden und das, was sie gesagt, getan oder gelassen hatten, überhaupt nicht mehr vor, ein weiterer Gegensatz zu der Kreisblende im Film, in welcher nur noch das Paar auftritt. Immer noch, indem sie abwechselnd erzählten, blieben sie im Abstand und schauten nur zu uns her. Aber es kam mehr und mehr, daß er ihr die Worte aus dem Mund nahm, und umgekehrt. Waren die Fremde und der Bootsherr demnach tatsächlich ein Paar? Sei dem, wie es war: Während ihres Zusammenseins mußte Ungeheures geschehen sein, und das anscheinend fast Augenblick für Augenblick. Noch in der Stunde ihrer Begegnung fielen aus dem wolkenlos blauen Vorfrühlingshimmel unversehens Regentropfen, und zwar einzig auf sie und ihren Tisch, es spritzte nur so auf die beiden herab, hörte dann auf, und sprühte wieder los, eine Berieselung, auch ein regelrechter Schwall, allerdings jeweils gar kleiner Tropfen, nach dem andern, bis sie, zugleich (wie auch sonst?), erkannten, daß hoch über ihren Köpfen, in einem Astloch, wo Regenwasser sich angesammelt hatte, ein unsichtbarer Vogel ein Bad nahm und bei jedem Gefiederschütteln den Luftraum besprengte. Am selben Abend setzte sich ein Kind zu ihnen und mußte dann von den Eltern Finger um Finger von ihr und von ihm abgelöst werden, wie von einem Spielzeug, das man nicht hergeben will. In der folgenden Nacht ließ der an den Baum gebundene Esel einen Eulenruf hören, und eine Eule antwortete mit einem Eselstöhnen. Am nächsten Morgen, was stand da in der Zeitung? Nichts, und wieder nichts. Tags darauf stieg jemand auf eine Leiter aus Strohhalmen, und sie hielt, und am Abend desselben Tages drückte jemand auf eine Klinke, und die Tür ging auf. Ein paar Tage später spielte jemand auf einer Maultrommel »Der Tod und das Mädchen«, und jemand schüttelte beim Weinen den Kopf. Und eines Nachts wurden alle Katzen grün, und dann wurde der folgende Tag, oder war das der Vortag gewesen?, weltweit zum Tag des Grün erklärt. Einmal dann schwebte eine einzelne Holunderblüte, ihr wißt ja, so eine winzige, kleiner als jeder Knopf, eine weiße, sternförmige, frei in der Luft, allein da, ohne Dolde, zwischen dem Busch und dem Boden, stand da, einfach so, ohne Bewegung, in der Luft, an einem Spinnfaden, denkt ihr? nicht doch!: an dem eigenen Saft – an dem eigenen Seim hing sie, dem Blütenseim, der, ihr hättet das sehen sollen, sichtbar nur beim nächsten Hinschauen, und nur aus einem bestimmten Winkel, sie unten verband mit ihrer Dolde oben, aus der die einzelne kleinwinzige Blüte sich gelöst hatte. Wie das, Holunderblüten im Vorfrühling? – Und wurden die beiden denn gar nicht ungeduldig, miteinander allein zu sein? – Ungeduldig waren sie vor ihrer Begegnung gewesen, er wie sie, und wie! Aber ihrer beider Ungeduld ergab dann Geduld, wie nur je eine: seltsame Arithmetik.
    Während die zwei miteinander unterwegs waren – unterwegs auch an Ort und Stelle –, fuhren die Züge und die Busse ausnahmsweise ohne Unfall durch den Kontinent, brach kein neuer Krieg aus, starben ihnen keine Angehörigen weg, und denen, die krank waren, ging es diese Zeitlang besser. Es konnte nicht anders sein, so war es gedacht, so war es eingeteilt, so hatte es für diese ohnehin gar zu endliche Zeit zu erfolgen und ein Ding der Möglichkeit zu sein. Während ihres gemeinsamen Aufbrechens – Aufbrechen auch im Ruhezustand – wurden die weißen

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