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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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so lässig dahinfuhr, erwies der sich auf den zweiten Blick als einarmig«.
    Die bejahrten Fahrzeuglenker hatten die beiden Hände entweder klassisch beidseits am Radmeridian oder, knapp in der Mehrzahl (er zählte), ebenso weiter oben am Wendekreis, bei zu fast hundert Prozent geradewegs vorgestreckten Armen, aus dem zurückgeschobenen Sitz heraus, in den sie tief eingesunken erschienen, so daß Arme und Hände, bei sonst unsichtbar bleibenden Alten, sich wie aus einem Untergrund oder anderen Horizont nach dem fernen Lenkrad hin spannten. Speziell waren außerdem die Hände und Arme dieser und jener Lastwagenchauffeure: bei vorgebeugten Oberkörpern einerseits am Volant, wo auch immer, die aufruhende Hand, Faust oder bloß so die Fingerspitzen, und andererseits der da aufgestützte Ellenbogen. Und, so oder so, waren die Fahrer in ihren Fahrzeugen fast immer allein – bis auf das eine Mal, da das Auto »stockvoll« von Mitfahrern war, wie »bei uns auf dem Balkan.«
    Während er so am Straßenrand, weg vom Internationalen Flugplatz, landeinwärts schritt, lief dir so ein Film ab, in rascher Folge, die ihm zugleich beinahe zeitlupenhaft erschien. Keine Geschichte erzählte dieser Film. Auf nichts lief er hinaus, und trotzdem kam er sich, indem er ein Bild nach dem andern entzifferte und die Anblicke untereinander in ein Verhältnis setzte, vorübergehend, ja, vorübergehend, als ein Forscher vor. Es war, als offenbarte sich ihm, im bloßen Hinschauen, eine Geheimschrift, oder ein winziges Fragment einer solchen. Und was bedeutete die? Nichts und abermals nichts. Aber das Forschen, Studieren, Lernen, und sei es nur die Einbildung davon: es besänftigte (wieder kam der Erzähler uns mit Gustave Flaubert), und erst einmal, auch ohne Besänftigung, dämpfte es, dämpfte das Getöse dort auf der großen Straße, machte einem Freude am Unterwegssein, kurz gesagt, Füße. Einer in seinem Wageninnern bemerkte ihn endlich so, ihn, der ging in die Gegenrichtung, auf dem Randstreifen, und statt ihn an- oder wegzuhupen, grüßte er ihn draußen, hob die Hand vom Lenkrad, hob beide Hände. Beneidete er ihn um sein Gehen am Rand der Straße, so wie er, der jetzt Dahingehende, einmal vor sehr langer Zeit, selber in der Rolle des Lenkradhalters, einen anderen um dessen Ausschreiten beneidet hatte? Nein. Noch nicht. Aber wieder einmal faßte er, der Gehende, den Vorsatz, wenn er schon ginge, dann auf eine Weise zu gehen, daß eines Tages auch er, und wenn bloß bei einem, möglichst einem Jungen, so wie er damals einer gewesen war, den Neid weckte. Den Neid? Die Sehnsucht. Čežnja.
    Es war Nachmittag, als er abbog von der Stadteinwärtsstraße auf einen Weg, der in seiner Vorstellung nordwärts durch die Auen auf die Donau zuführte, die Donau dort, wo sie Wien hinter sich gelassen hat und frei durch die schon pannonische Ebene fließt. Das flache Land da war ihm von altersher bekannt. Sooft er in der Hauptstadt war, hatte es ihn dahinausgezogen, und so hatte er vorbeigeschaut am Geburtshaus von Joseph Haydn, war ebenso hingepilgert von Petronell über die Äcker zum Heidentor des spätrömischen Carnuntum, und hatte trotzdem des im Leeren dort die Stellung haltenden kaiserlichen Schriftstellers Marc Aurel Ermahnungen zum inneren Bettelmanntum in den immerwährenden Wind geschlagen, hatte, des Namens wegen »hineingeschaut« nach Fischamend, wo der kleine Fluß Fischa am Ende in den Donaustrom mündet … Er wußte einiges von der Gegend, über Maria Ellend, Hainburg und Mannswörth hinaus. Aber an seinem Ankunftstag im Herkunftsland wollte er davon nichts wissen, und allem noch zu Wissenden ausweichen. Er nahm sich vor, in einem unbesiedelten Gras-, eher schon Steppenland querfeldein gehend, für das Wissen, insbesondere von Namen, taub zu sein. Damit dachte er, beengt von Namen wie »Wien«, »Österreich«, selbst »Donau«, fürs erste weiterzukommen.
    Ein scharfer Ostwind blies ihn an von der Seite. Wo war der Hund von Porodin? Für einen Augenblick kreuzte er seinen Weg, in Gestalt eines Raben, der groß war für zwei und fast lautlos, nichts als ein wie aus der östlichen Ferne kommendes Rauschen, und so nah am Erdboden dahinflog, daß es aussah, als renne er windhundschnell durch das fahle Gras, ein tiefschwarzer Fellglanz, zwischen den Halmen wegstürmend. Viele Senken waren quer durch die Donau-Auen zu umgehen. Es waren das von dem Hauptstrom abgeschnittene, sozusagen tote Wasserarme oder Lacken, in denen aber Leben war:

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