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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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wiederbelebten, dünkten ihn ohne Hintergedanken, gegen das Imperium gefeit. Über die aufgefrischten Spurenelemente des Altreichs würde es nie hinausgehen, oder? »Oder ich fresse einen Besen.«
    Und woher wußte er das? Er wußte das erst einmal von dem Flug, auf dem sich die Einheimischen unter den Passagieren so grundanders gegeben hatten als, sagen wir, noch vor zwei Jahrzehnten. Selbst wenn ein Dialekt sich hören ließ, war der nichts als eine Färbung. Die Blicke waren kein »Geschau« mehr und durften »Blicke« oder »Schauen« heißen, und vor allem waren es, wenn überhaupt welche laut wurden, die Stimmen, die – hörte er da aber recht? – Selbstverständlichkeit zusammen mit Ruhe ausstrahlten, eine ihm bei den eigenen Leuten ganz ungewöhnte Souveränität (»womit wir doch wieder beim Reich wären«, sagte er in jener Flußnacht). Und er wußte das, zum zweiten, von all der Zeit in unserer balkanesischen Enklave, wo seine jungen Landsleute ohne jede Breitbeinigkeit, still, aufmerksam, gleich auf gleich, lernbegierig, für die umzingelten Enklavisten dawaren. Diese Jungen und nicht mehr so Jungen – mochten sich auch bei einigen Rückfälle ereignen ins altbekannte Maulheldentum – erinnerten ihn an ein Europa, ein ganzes, wie es das, außer in der Propaganda, wohl nie gegeben hatte (und nie geben würde?), und das er »das dritte Europa« nannte, ohne uns in jener Nacht Genaueres darüber sagen zu können – es blieb so unbestimmbar wie die Erinnerung. »Aber«, so sagte er, »hoch diese Erinnerung!« Wollte er das alles – Flugzeug, Enklave – nicht bloß so sehen? »Nein, diese Erinnerung hieß: Ich sah es so. Ich sehe es so.« Und wenn – und wenn er es so sehen wollte? Hatte er auf diese Weise nicht auch seine Bücher geschrieben? »Nie was von Utopia gehört?«
    Es erwies sich, weißt du, leichter als gedacht, vom Wiener Flughafen zu Fuß wegzukommen aufs freie, freiere Land. Eine Zeitlang ging er noch auf dem Randstreifen der Zu- und Abfahrtsstraße, angehupt ab und zu von einem der dicht auf dicht rollenden Autos. In den meisten Fahrzeugen Leute, die ihn gar nicht wahrnahmen. Ein Kind hatte ihm einst den Blick auf die Auto-Insassen nahegelegt; es sei »so spannend« da hineinzuschauen. Immer wieder hatte er es versucht, bei seinem Gehen am Rand der Überland- und Landstraßen, quer durch Europa – was eine seiner Spezialitäten war –, aber noch jedesmal verdrehte ihm das bald den Kopf und machte schwindlig.
    An diesem Tag endlich gelang es ihm. Das kam, indem er absah von den Gesichtern, die sich ohnedies kaum entziffern ließen, und sich konzentrierte auf die Hände am jeweiligen Lenkrad. Wie verschieden doch die einzelnen Fahrmänner und -frauen diese hielten, oder auch nicht hielten. Das klassische Modell, beide Hände links und rechts am Rad, an dessen Mittellinie, sozusagen den Durchmesser bezeichnend, war dir eher die Ausnahme. Häufiger das Händepaar, wie in Ruhe, in geringem Abstand voneinander nah dem Zenit oder Scheitelpunkt des Radkreises. Hatte das erstere etwas von der Einstellung eines im Studio gedrehten Films, wobei das Fahren bloß simuliert wurde, besonders deutlich, wenn der Lenker das Rad, auch ohne Kurve, ständig leicht hin und her drehte, so gehörte das zweite zu einem Film, der im Naturdekor spielte, und gleichermaßen all die anderen Anblicke von Händen an den Lenkrädern.
    Gemeinsam war ihnen, daß sie ihm durch die Reihe oder eher, bei dem gleichmäßig dichten Verkehr hin zum Flughafen, in der Kolonne trotz dem Blickabstand als Großaufnahme erschienen. Die häufigste Haltung, so erkannte er mit der Zeit, war wohl: beide Hände benachbart nach dem gleichsam unteren Pol des Radkreises, und da war die Siegerin die, bei welcher das Rad von untenhinten umgriffen wurde, so daß die Finger, bis auf die Daumen natürlich (wie sonst?), auf den Chauffierenden zuliefen, während die zweite Siegerin die war, bei der die zwei Hände den Volant an dessen erdnahen Pol gleichermaßen von vorneoben oder oberhalb und von vorne, umgriffen, mit dem Anschein von um das Rad geballten Fäusten, an denen, Großaufnahme innerhalb der Großaufnahme, vor allem die Knöchel, heller als die übrigen Hände, in die Augen stachen. Nicht selten auch die Hand einzeln am Rad, jetzt eine rechte, jetzt eine linke, bevorzugt, wenn dabei eine Speiche zu umfassen war. Öfter lenkten auf solche Weise, einhändig, Männer als Frauen, und dann ausschließlich junge. Als einmal dann ein Greis

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