Die Morde des Herrn ABC
beobachten. Zuerst ließ er seine Zeitung fallen und dann seine Fahrkarte. Ich hob sie auf – er hatte nicht einmal bemerkt, dass er sie nicht mehr in der Hand hielt! Dankte mir übertrieben herzlich, aber erkannt hat er mich bestimmt nicht.»
«Nun, er hat dich ja auch nur ein-, zweimal durch den Korridor gehen sehen.»
Sie tanzten einmal um das ganze Parkett.
«Du tanzt wundervoll», schmeichelte Tom.
«Ach, hör doch auf!» Aber Lily schmiegte sich noch etwas dichter an ihn. Wieder tanzten sie um den ganzen Saal.
«Hast du vorhin Euston gesagt – oder Paddington?», fragte Lily plötzlich. «Wo du den alten Cust gesehen hast?»
«Euston.»
«Ganz sicher?»
«Klar bin ich sicher.»
«Komisch. Nach Cheltenham fährt man doch ab Paddington.»
«Natürlich, aber der alte Cust fuhr nicht nach Cheltenham, sondern nach Doncaster. Das weiß ich genau, mein Mädchen, weil ich ja seine Fahrkarte vom Boden aufhob!»
«Aber mir hat er doch gesagt, er fahre nach Cheltenham…»
«Ach, da hast du ihn falsch verstanden. Er ist nach Doncaster gefahren, darauf kannst du Gift nehmen. Es gibt eben Leute, die Schwein haben! Ich habe ein paar Penny auf Firefly gesetzt und hätte den Gaul gern rennen gesehen!»
«Ich glaube nicht, dass Mr. Cust Rennen besucht. Er sieht nicht danach aus. Hoffentlich wird er nicht ermordet, Tom! In Doncaster soll doch der nächste ABC-Mord stattfinden!»
«Cust wird es nicht treffen, sein Name beginnt ja nicht mit einem D.»
«Neulich hätte es ihm aber glatt passieren können! Er war ganz in der Nähe von Churston, als der letzte Mord verübt wurde.»
«Tatsächlich? Ein komischer Zufall, wie?»
Tom lachte.
«War er vielleicht auch in Bexhill, als dort gemordet wurde?»
Lily runzelte die Stirn. «Er war fort… Ja, ich weiß, dass er fort war, weil er seinen Badeanzug vergessen hatte. Mutter stopfte ihn gerade und sagte: ‹Da haben wir es, jetzt ist Mr. Cust doch ohne seinen Badeanzug weggefahren›, und ich fauchte sie an: Ach, lass doch diesen blöden Badeanzug, in Bexhill ist ein grauenvoller Mord passiert – ein junges Mädchen ist erwürgt worden!›»
«Ja, wenn er aber seinen Badeanzug mitnehmen wollte, dann muss er doch ans Meer gefahren sein!… Du, Lily –» Er grinste spitzbübisch. «Was gibst du mir, wenn sich herausstellt, dass euer alter Einspänner der Mörder ist?»
«Mr. Cust? Der kann doch keiner Fliege etwas zu Leide tun!»
Sie tanzten – allein dem Gefühl hingegeben, beisammen und glücklich zu sein. In ihrem Unterbewusstsein jedoch hatte sich etwas festgekrallt und bohrte weiter…
23
D oncaster!
Ich glaube, ich werde mich an diesen 11. September mein ganzes Leben lang erinnern!
Tatsächlich ruft noch heute die bloße Erwähnung des St.-Leger-Rennens den Gedanken an Mord in mir wach.
Wenn ich meine damaligen Gefühle zu rekonstruieren versuche, dann war das hervorstechendste das einer jämmerlichen Unzulänglichkeit. Da waren wir nun alle am Tatort versammelt – Poirot, ich selber, Clarke, Fraser, Megan Barnard, Thora Grey und Mary Drower – und was konnten wir im Grunde genommen eigentlich ausrichten?
Wir hegten alle jene gänzlich ungewisse Hoffnung, in einer Menge, die nach Tausenden zählte, ein Gesicht oder eine Gestalt wieder zu erkennen, die wir vor zwei oder drei Monaten vielleicht einmal kurz und verschwommen gesehen hatten.
Nein – die Chancen standen noch weit ungünstiger! Die einzige Person, die den Mörder tatsächlich gesehen hatte und demzufolge auch erkennen konnte, war Thora Grey. Ihre vollendete, damenhafte Haltung brach unter der fortgesetzten Spannung langsam zusammen. Sie war nicht mehr ruhig und überlegen, sondern saß mit verkrampften Händen, fast weinend da und beschwor Poirot, flehte ihn an, ihr zu glauben:
«Ich habe ihn wirklich nicht angesehen! Hätte ich es nur getan! Ich war ja so dumm! Jetzt verlassen Sie sich auf mich… alle hängen von mir ab, und ich werde Sie bestimmt enttäuschen! Weil ich ihn, sogar wenn ich ihn tatsächlich Wiedersehen sollte, bestimmt nicht mehr erkennen werde. Ich habe ein schlechtes Personengedächtnis!»
Was immer er mir über das Mädchen gesagt hatte, wie scharf er es kritisierte, wenn wir allein waren, jetzt war Poirot die Güte in Person. Er gab sich weich und verständnisvoll. Ich erkannte, dass auch Poirot weiblicher Schönheit in Verzweiflung nicht teilnahmslos gegenüberzustehen vermochte. Er nahm Thora freundlich bei den Schultern.
«Nun, nun, petite, keine
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