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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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Moment. «Ich hab's!» rief sie dann. «Gehen
wir nach Madagaskar. Zum Urkontinent Lemuria. Da gibt es ein Fingertier, ein
Junges – das sieht so schön traurig aus. Es wird Ihnen bestimmt gefallen.»
    Quin nickte. «Also gut, wir begeben
uns nach Madagaskar. Vielleicht können Sie uns ein Handtuch oder eine Zeitung
besorgen; mehr brauchen wir nicht. Es verstößt bestimmt gegen die
Vorschriften, hier ein Picknick abzuhalten, aber von solchen Kleinigkeiten lassen
wir uns nicht stören, hm?»
    Sie ging nach nebenan in die kleine
Garderobe und kam mit einem gefalteten Handtuch und offenem Haar zurück. Über
ihr Gesicht mit seinen kontrastierenden Zügen konnte man geteilter Meinung
sein, dachte Quin, nicht aber über dieses herrlich ungebändigte und völlig
unmodische Haar. Im Licht der letzten Strahlen der sinkenden Sonne leuchtete
es in einem warmen, sanft goldenen Schein, der einem ans Herz griff.
    Seltsam war diese Wanderung durch
die hohen dämmrigen Räume, in denen Geschöpfe sie beobachteten, die für immer
in ihrem kleinen Moment der unendlichen Zeit eingefroren waren. Antilopen nicht
größer als Katzen standen auf dem Sprung, bereit, über das sandige Feld zu
fliehen. Die Affen der Neuen Welt hingen mit melancholischen kleinen Gesichtern
von Baumästen herab – und an einem Fenster saß eine Dronte, die ausgestorbene
plumpe Riesentaube, auf einem Nest mit falschen Eiern.
    Madagaskar hielt alles, was Ruth
versprochen hatte. Halbaffen mit gestreiften Schwänzen und gescheckten
Gesichtern hielten Nüsse in ihren verblüffend menschlich aussehenden Händen.
Zwei Indris, wuschelig wie Kinderspieltiere, lausten einander.
    Und allein, dicht hinter dem Glas,
das Fingertier – ein Jungtier, häßlich und schwermütig, mit großen traurigen Augen,
nackten Ohren und einem ausgestreckten Finger, drohend wie der einer Hexe.
    «Ich weiß selbst nicht, warum ich
den kleinen Kerl so gern habe», sagte Ruth. «Vielleicht weil er irgendwie ein
Ausgestoßener ist – so häßlich und einsam und traurig.»
    «Er hat allen Grund, traurig zu
sein», meinte Quin. «Die Eingeborenen haben Todesangst vor ihm – sie laufen mit
Zeter und Mordio davon, wenn sie einen zu Gesicht bekommen. Einen Stamm habe
ich allerdings gefunden, da glaubt man, daß sie die Macht besitzen, die Seelen
der Toten in den Himmel zu tragen.»
    Sie wandte sich ihm gespannt zu.
«Natürlich, Sie waren ja dort. Mit der französischen Expedition? Es muß ein
wunderbares Land sein. Wie ich Sie beneide! Ich wollte mit meinem Vater reisen,
sobald ich mein Studium beendet habe, aber jetzt ...» Sie zog ihr Taschentuch
heraus und setzte von neuem an. «Ich bin sicher, dieser Stamm hat recht», sagte
sie, sich wieder dem Fingertier zuwendend. «Ich kann mir vorstellen, daß sie
die Seelen der Toten in den Himmel tragen.» Einen Moment schwieg sie, den Blick
auf das ausgestopfte kleine Geschöpf hinter dem Glas gerichtet. «Du kannst
meine Seele haben», flüsterte sie. «Jederzeit.»
    Quin warf ihr einen Blick zu, sagte
aber nichts. Statt dessen nahm er das Handtuch und breitete es auf dem
Parkettboden aus. Dann ging er daran, den Korb auszupacken.
    Es gab eine Pastete und eine Dose
Fasanenbrust. Es gab frische, in schneeweiße Servietten eingeschlagene Brötchen
und Butterröllchen in einem Deckelschälchen. Er hatte die ersten Kirschen
mitgebracht und zwei Töpfchen mit Schokoladencreme. Die Teller waren aus
Porzellan; die langstieligen Gläser aus Kristall.
    «Ich glaube, der Wein wird Ihnen
schmecken», bemerkte Quin, als er die Flasche herausnahm. «Sogar an den
Korkenzieher habe ich gedacht.»
    «Wie haben Sie das nur
fertiggebracht? Wo haben Sie das alles bekommen? Woher haben Sie die Zeit
genommen?»
    «Ich bin ganz einfach in einen Laden
marschiert und habe gesagt, was ich will. Es hat ganze zehn Minuten gedauert.
Ich brauchte nur noch zu bezahlen.»
    Sie beobachtete ihn, wie er
auftischte, erstaunt, daß er sie so bediente. War das englische Art oder war es
ein persönlicher Vorzug von ihm? Ihr Vater – alle Männer, die sie kannte,
hätten es sich bequem gemacht und sich von den Frauen bedienen lassen.
    Als sie zu essen begann, merkte sie
erst, daß sie völlig ausgehungert war; sie hatte Mühe, sich ihrer
Tischmanieren zu erinnern.
    «Das schmeckt wunderbar. Und der
Wein ist köstlich. Er ist doch nicht zu schwer, oder?»
    «Na ja ...» Er wollte zur Vorsicht
mahnen, entschied sich aber dagegen. Sie hatte ein Recht auf ruhigen Schlaf in
dieser Nacht,

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