Die Morgengabe
von sich gab. Das hieß, kein
Lebewesen verärgern, die Hausfliegen dulden, mit Dankbarkeit die braune Soße
schlürfen, die in Flaschen abgefüllt war und sich Kaffee nannte. Das hieß, Gott
und allen guten und bösen Geistern zu jeder Tages- und Nachtzeit versichern,
daß sie niemals klagen würde, ganz gleich, was geschah, wenn nur Ruth gesund
und unversehrt war und bald zu ihnen kommen würde.
Um halb acht hatte Leonie das
Frühstück für ihre Familie fertig – Brote, die mit Margarine bestrichen waren,
eine Substanz, die keiner von ihnen je zuvor gekostet hatte –, und danach
machte sich Hilda mit rotgeränderten Augen auf
den Weg zu ihrer Arbeit als Hausgehilfin bei einer Mrs. Manfred in Golders
Green. Wäre Leonie nicht von ihrer Angst um Ruth besessen gewesen, so hätte sie
tiefes Mitleid mit ihrer Schwägerin empfunden, die dauernd von Mrs. Manfreds
Mops gebissen wurde und einfach nicht glauben konnte, daß eine Badewanne, wenn
sie saubergemacht war, auch noch getrocknet werden mußte; so aber war sie
heilfroh, daß Hilda nicht zu Hause bleiben konnte, um ihr im Haushalt zu
«helfen».
Um acht Uhr marschierte Onkel Mishak
mit dem englischen Lexikon in der Manteltasche den Hügel hinauf, um sich in die
lange Schlange der Ausländer vor dem Rathaus in Hampstead einzureihen, die
täglich auf Nachricht von Verwandten warteten und auf alle Arten von
Genehmigungen – und überall auf seinem Weg wurde der untersetzte kleine Mann,
der hin und wieder stehenblieb, um in einem Garten einen Rosenstrauch zu
bewundern oder einem streunenden Hund ein Wort zu gönnen, von Bekannten
gegrüßt, die er dank seiner freundlichen Art schon in den zehn Tagen des Exils
gefunden hatte.
«Schon was gehört?» fragte der Mann
im Tabakskiosk. Und als Mishak den Kopf schüttelte, meinte er: «Vielleicht
hören Sie heute was. Es kommen ja jeden Tag welche an. Sie wird schon kommen,
warten Sie nur.»
Die Blumenverkäuferin mit der Feder
im verbeulten Hut, der Mishak noch nie etwas abgekauft hatte, riet ihm, nur den
Kopf nicht hängen zu lassen; ein Wermutbruder, mit dem er sich eines
Nachmittags eine Parkbank geteilt hatte, blieb stehen, um sich nach Ruth zu
erkundigen.
Während Onkel Mishak so den Hügel
hinauftrabte, ging ihn Kurt Berger in gerader Haltung hinunter, wobei er sich zwang,
seinen Spazierstock zu schwingen. Er war auf seinem täglichen Gang zum
Bloomsbury House, wo eine Gruppe Quäker, Sozialarbeiter und Beamte sich
bemühten, den Enteigneten und Vertriebenen neue Orientierung zu geben – und
auf seinem Weg durch die grauen Straßen, deren Steine selbst von Heimweh
durchtränkt schienen, lüftete er immer wieder den Hut, um andere Flüchtlinge zu
grüßen, die ihren täglichen Erledigungen nachgingen.
«Haben Sie Nachricht von Ihrer
Tochter?» erkundigte sich Dr. Levy, der bekannte Herzspezialist, der seine Tage
in der öffentlichen Bibliothek zubrachte, um sich auf ein zweites
medizinisches Examen vorzubereiten, in Englisch diesmal.
«Und – haben Sie etwas gehört?»
fragte Paul Ziller, der Leiter des Ziller-Quartetts. Er hatte keine
Arbeitserlaubnis, sein Quartett hatte sich aufgelöst, aber jeden Tag ging er
ins Jewish Day Centre, um in einem freien Garderobenraum zu üben, und
jeden Abend warf er sich in seinen Smoking, um in einem ungarischen Restaurant
für sein Abendessen Zigeunermusik zu machen.
In der düsteren Wohnung allein
zurückgeblieben, hielt Leonie weiterhin an ihrem Vorsatz fest, nur gut zu sein.
Und Güte zu zeigen, gab es reichlich Gelegenheit, während sie ihrer Hausarbeit
nachging. Angesichts der dicken Fettschicht, den der übergekochte Eintopf der
Psychoanalytikerin auf dem Herd hinterlassen hatte, wäre sie normalerweise
wutschnaubend zu dieser in den zweiten Stock hinuntergestürmt. Statt dessen
jedoch wischte sie die Bescherung ohne ein Wort auf. Das Badezimmer, das von
allen Hausbewohnern benutzt wurde, bot nahezu unbegrenzte Möglichkeiten zur
Tugendhaftigkeit. Die Badewanne hatte einen schwarzen Rand, die triefnasse
Badematte lag zusammengeknüllt in einer Ecke ... und Miss Bates, eine
Kindergärtnerin, die einzige überlebende Engländerin in Nummer 27, hatte ein
ganzes Sortiment tropfender Hemdhosen an einem durchsackenden Stück Schnur
aufgehängt.
Das alles war unwichtig. Voll der
Liebe zu Miss Bates, voll der Hoffnung, daß die Gute bald einen Ehemann finden
würde, wrang Leonie die Hemdhosen aus, machte die Badewanne sauber. Sie hatte
ihr Leben lang Personal gehabt, aber
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