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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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ich mich anderen überhaupt zumuten kann. Wenn ich unrein bin ...»
    «Reden Sie nicht so!» unterbrach er
sie heftig.»Und beleidigen Sie nicht Menschen, die Sie gern haben und Ihnen
helfen möchten. Sagen Sie mir jetzt lieber die genaue Adresse Ihrer Kinderfrau,
dann kümmere ich mich um alles. Wo bleiben Sie heute nacht?»
    «Hier.»
    Er wollte schon protestieren, ihr
vorschlagen, mit ihm ins Hotel Sacher zu kommen, aber dann fielen ihm die
deutschen Offiziere an der Bar ein, und er hielt es für besser, nichts zu
sagen.
    «Gut, aber
seien Sie vorsichtig. Was ist mit dem Nachtwächter?»
    «Der kommt nicht ins
Zimmer meines Vaters. Und selbst wenn er kommen sollte – er kennt mich seit
meiner Kindheit.»
    «Sie können
keinem Menschen trauen», sagte Quin.
    «Wenn ich Essler nicht mehr trauen
kann, kann ich mich gleich umbringen», sagte Ruth.
    Um zwei Uhr
morgens trieb Quin die Unruhe aus dem Bett. Wie hatte er bloß ein junges Ding,
das kaum der Schulbank entwachsen war, mutterseelenallein in einem verlassenen
alten Museum voller Schatten und Gespenster zurücklassen können? In aller Eile
kleidete er sich an, lief die Ringstraße hinunter, überquerte den MariaTheresienplatz
und trat durch die Seitentür ins Museum.
    Ruth schlief auf dem Feldbett im
Präparierraum. Ihr Haar fiel dicht und wirr zum Boden herab, und sie hielt
etwas in den Armen, so wie ein Kind ein geliebtes Spielzeug an sich zu drücken
pflegt. Mit dem Hauptschlüssel ihres Vaters konnte man auch die Vitrinen
aufschließen. Es war das großäugige Fingertier, das Ruth an die Brust gedrückt
hielt. Sein langer Schwanz bog sich steif über ihre Hand, und das Schnäuzchen
lag an ihrer Schulter.
    Quin stand da und sah auf sie
hinunter und konnte nur hoffen, daß das kleine Fingertier in ihren Armen ihre
Seele in die Straßen von Belsize Park trug, in das Land, in dem nun alle
Zuflucht gefunden hatten, die sie liebte.

3
    Leonie Berger glitt vorsichtig aus
dem Bett und drehte das Kopfkissen um, damit ihr Mann, der auf der anderen
Seite der schmalen, durchgelegenen Matratze zu schlafen vorgab, den nassen
Fleck, den ihre Tränen hinterlassen hatten, nicht bemerkte. Dann machte sie
Morgentoilette und kleidete sich mit großer Sorgfalt an – Seidenstrümpfe,
schwarzer Rock, weiße Bluse, hochhackige Schuhe –, weil sie Wienerin war und
man auch dann noch auf sein Äußeres achtete, wenn die eigene Welt
zusammengebrochen war.
    Und dann begann sie, ein guter
Mensch zu sein.
    Leonie war sehr mutig gewesen, als
sie Wien verlassen hatten. Sie hatte in ihrem Korsett versteckt eine
Brillantbrosche mitgenommen, ein äußerst leichtsinniges Unterfangen. Sie war
vernünftig und fürsorglich gewesen, denn das entsprach ihrer Natur, hatte dafür
gesorgt, daß der eine Koffer, den ihr Mann mitnehmen durfte, alle
Aufzeichnungen für sein Buch Die Säugetiere des Pleistozän enthielt, außerdem seine
Magentabletten und die Nagelschere, mit der er auch seine Zehennägel schneiden
konnte. Sie war ihrer Schwägerin Hilda gegenüber, die mit einer
Arbeitserlaubnis emigrierte und auf dem Weg zur Kanalfähre dauernd über ihre
aufgegangenen Schnürsenkel stolperte, von einer Engelsgeduld gewesen, und sie
hatte das Kind einer jungen Mutter, die auf der Flucht war wie sie, gehalten,
während diese sich an der Reling übergeben mußte. Selbst angesichts der
Unterkunft, die ihnen von ihrem Bürgen, einem entfernten Verwandten besorgt
worden war, hatte Leonie nur ein wenig gemurrt. Die Räume in der obersten Etage
eines schäbigen Mietshauses in Belsize Close waren kalt und düster, die Möbel
waren abscheulich, die Gemeinschaftsküche ein Graus, aber sie waren billig.
    Doch damals hatte sie eben noch
geglaubt, Ruth warte in dem Studentenlager an der Südküste auf sie. Seit der
Brief von der Hilfsorganisation der Quäker eingetroffen war, in dem man ihnen
mitgeteilt hatte, daß Ruth nicht mitgekommen war, hatte Leonie begonnen, gut zu sein.
    Das hieß, niemals auch nur ein
einziges Wort der Kritik oder Beschwerde verlieren. Das hieß, mit Vergnügen den
Geruch langsam verrottenden Blumenkohls aus der Gemeinschaftsküche einatmen,
die eine Psychoanalytikerin aus Breslau mit ihnen teilte. Das hieß, die
räudigen Straßenkater bewundern, die in dem sogenannten Garten, der in
Wirklichkeit nur ein Schutthaufen war, heulten und jaulten. Das hieß, glücklich
und zufrieden sein mit der zischenden Gasheizung, die die Münzen nur so
schluckte, dafür aber nur Abgase und blaue Flammen

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