Die Morgengabe
in
diesem märchenhaften Zug eine dritte Möglichkeit gab, einen Dimmer, der es
erlaubte, die Beleuchtung so zu dämpfen, daß sich
der Schein der rosafarbenen Lampen zu einem zarten Schimmer wie unter
Rosenblättern abschwächte.
Wenn Quin kam, würde sie sich mit
dem Gesicht zur Wand drehen und so tun, als schliefe sie. Aber während der Zug
durch die Nacht raste, überflutet, ihr
erschöpftes Gehirn sie mit Bildern von Brautnächten und Hochzeitsritualen
ferner Zeiten und fremder Länder ... Jungfrauen, die in das Bett eines
fremdländischen Herrschers geschleppt wurden, um dort, in riesigen
Himmelbetten installiert, auf einen Bräutigam zu
warten, den sie bisher nur in prachtvollem Goldtuch gesehen hatten ... Bei den
Mi-Mi nahm der ganze Stamm an der Hochzeitsnacht teil; die alten Frauen sangen
vor der Hütte des frisch verheirateten Paares; die jungen Leute tanzten und
riefen dem jungen Paar von draußen Ermutigung zu ... Und sie sah Bilder dieser
armen viktorianischen Jungfern aus den Romanen, die man zu spät oder gar nicht
in die Tatsachen des Lebens eingeweiht hatte, und die nun voller Angst
versuchten, an den Fenstervorhängen emporzuklettern oder sich in Schränken zu
verstecken ...
Hätte auch sie Zuflucht in einem
Schrank gesucht, wenn dies eine echte Hochzeitsnacht gewesen wäre? Nun, sie war
wenigstens mit den Tatsachen des Lebens vertraut – seit ihrem sechsten
Lebensjahr schon. Jetzt allerdings fragte sich Ruth, die sich rastlos in ihrem
Bett wälzte, ob sie damals am Grundlsee ihren Studien nicht ein wenig
übereifrig nachgegangen war. Kraft-Ebbing, Havelock Ellis, Sigmund Freud ...
Vieles konnte danebengehen, darin waren sich die ehrwürdigen Herren alle einig.
Da gab es zum Beispiel die Frigidität. Diese Möglichkeit hatte Ruth, ein
feuriges Kind von Natur aus, immer besonders beunruhigt. Aber das wäre hier
wahrscheinlich nicht passiert – nicht mit einem Mann, der sie immer zum Lachen
bringen konnte.
Eine Stunde war vergangen, seit sie
den Speisewagen verlassen hatte. Sie drehte sich auf die andere Seite, schloß
die Augen, stellte sich schlafend – aber es verstrich noch eine Stunde und noch
eine, und er kam nicht.
Ein plötzlicher, heftiger Ruck riß sie aus dem
Schlaf, den sie endlich doch gefunden hatte. Der Zug hatte angehalten. Von
draußen hörte sie Schritte und Stimmen.
Entsetzt fuhr sie in die Höhe. Nun
war es doch geschehen. Man würde sie aus dem Zug holen und zurückschicken wie
schon einmal. Das Bett an ihrer Seite war immer noch leer. In heller Panik
stürzte sie in den Korridor hinaus.
Quin stand am Fenster. Er hatte die
Jalousie hochgeschoben und sah in die mondhelle Landschaft hinaus.
«Sie kommen!» rief sie angstvoll.
«Ich hab es gewußt. Es konnte nicht gutgehen. Jetzt werden sie mich wieder
zurückschicken.»
Er drehte sich herum und sah sie,
schlaftrunken, in schrecklicher Angst. Ohne zu überlegen öffnete er die Arme,
und ohne zu überlegen flüchtete sie sich zu ihm.
«Ist ja gut», sagte er, sie in den
Armen haltend. «Es ist nichts. Nur die Strecke ist blockiert. Vielleicht steht
eine Kuh auf den Gleisen.»
«Eine Kuh?» Sie blickte zu ihm auf
und blinzelte verdutzt. Dann schüttelte sie hoffnungslos den Kopf.
«Ja, eine von diesen dicken,
braunweißen Kühen, wie sie immer auf Schokoladentafeln abgebildet sind. Auf
Milchschokolade natürlich. Scheckige Kühe geben nämlich am meisten Milch,
wissen Sie.» Er fuhr fort, Unsinn zu reden, bis sie allmählich zu zittern
aufhörte. Dann sagte er: «Wir sind längst über die Grenze. Wir sind in
Sicherheit. Wir sind schon in Frankreich.»
Aber sie konnte es immer noch nicht
glauben. «Ist das wirklich wahr?» fragte sie und sah ihn forschend an. «Sagen
Sie mir auch die Wahrheit? Es sind doch gar keine Zollbeamten gekommen. Niemand
hat unsere Pässe verlangt, niemand hat uns durchsucht. Sonst kommen sie immer
und ...» Sie begann wieder zu zittern. Sie wußte, mit welcher Brutalität andere
Flüchtlinge an der Grenze behandelt worden waren; wie man ihnen gewissermaßen
in letzter Minute noch die wenigen Habseligkeiten abgenommen hatte, die sie
hatten mitnehmen können.
«Ich habe unseren Paß beim Zugführer
abgegeben – für uns ist der Grenzübertritt nur eine Formalität.»
Unseren Paß ... Der Paß, in dem der
Außenminister Seiner Majestät des Königs von England darum bat, den Inhaber
frei und ungehindert passieren zu lassen ... Einen Moment lang wünschte sich Ruth
nichts sehnlicher, als diesem
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