Die Morgengabe
Nach den Schrecknissen, die er auf dem Kontinent
zurückgelassen hatte, war er so froh und dankbar, wieder zu Hause zu sein, wie
er sich das niemals vorgestellt hatte.
9
Die Bergers waren gerade zwei Wochen
in England, als Hilda ihre Stellung verlor. Sie war auf eine Trittleiter
gestiegen, um die Nippessachen auf Mrs. Manfreds Bücherschrank abzustauben, und
da war der Bücherschrank umgekippt und hatte sie unter sich begraben. Es war
der einzige im Haus, da Mrs. Manfred vom Lesen nicht viel hielt, aber er hatte
Glastüren, und ein Splitter hatte den Hund getroffen.
Keinen wunderte es, und keiner
machte Mrs. Manfred einen Vorwurf, aber Hilda nahm die Sache schwer und blieb
im Bett. Mit Zinkpflaster bedeckt, schrieb sie Briefe an die Verwaltungsbehörde
von Betschuanaland und erkundigte sich nach den Mi-Mi, aber sie schickte die
Briefe nicht ab, weil sie kein Geld für Briefmarken hatte, und Leonie aussah,
als würde sie umfallen, wenn man auch nur die kleinste Kleinigkeit von ihr
verlangte.
Onkel Mishak machte es sich, als die
Tage vergingen und Ruth nicht kam, zur Gewohnheit, bei Tagesanbruch aufzustehen
und durch die Stadt zu wandern. Im bedächtigen Schritt des Landmanns legte er
weite Strecken zurück, und er wußte, daß es leichtsinnig war, denn in ein, zwei
Monaten würden die Sohlen seiner Schuhe durchgelaufen sein; aber er mußte
einfach ins Freie hinaus.
Er fürchtete um Ruth. Undenkbares
konnte ihr in dieser Schrekkenswelt widerfahren, zu der seine Heimat geworden
war. Mishak hatte eigentlich nicht in die Rauhensteingasse ziehen wollen, als
Marianne gestorben war. Er hatte in dem Haus bleiben wollen, das er seiner Frau
an den Hängen des Wienerwalds gebaut hatte. Er war nur in die Rauhensteingasse
gekommen, um Leonie für ihr freundliches Angebot zu danken und abzulehnen.
Aber Leonie war nicht zu Hause gewesen. Die sechsjährige, gerade frisch
gebadete Ruth hatte ihn empfangen, ihm die Arme um den Hals geschlungen und
gerufen: «Ich freue mich ja so, daß du zu uns ziehst! Wirst du mit mir in den
Prater gehen? Ich meine, in den Wurstelprater, nicht den andern, wo die gesunde
frische Luft ist. Und fahren wir auch nach Schönbrunn und schauen uns die Lamas
an? Inge hat gesagt, sie spucken und machen einen ganz naß. Und wenn wir auf
den Kahlenberg fahren, dann erlaubst du mir doch, daß ich mich aus dem Fenster
lehne, und hältst mich nicht an den Beinen fest?»
Dieser gesunde Egoismus eines
sorglosen Kindes, das die Welt als aufregendes Abenteuer sah, bewegte ihn tief.
Ruths Freude über sein Kommen hatte mit Mitleid nichts zu tun; sie wollte ihn
für ihre eigenen Zwecke dahaben. Mishak hatte sich umstimmen lassen und war in
die Rauhensteingasse gezogen. Sie hatten sich zusammen die Lamas angesehen und
vieles mehr ...
Hier jetzt, auf einer Bank in
Kensington Gardens, wo er den Kindern beim Spielen zusah, wurde sich dieser
stille alte Mann, der um jeden Maulwurfshügel herumging, um nicht etwa einen
der kleinen Bewohner zu treten, bewußt, daß er bedenkenlos jeden töten würde,
der seiner Nichte etwas zuleide tat.
Kurt Berger sprach kaum über seine
vermißte Tochter. Er ging jeden Morgen zum Bloomsbury House, er arbeitete jeden
Nachmittag in der Bibliothek, aber niemand hätte ihn jetzt mehr für einen Mann
von 58 Jahren gehalten. Eines Morgens schließlich nahm er einen Bus zur Halrey
Street, wo sein Bürge, Dr. Friedlander, seine Praxis hatte.
«Ich gehe nach Wien zurück», sagte
er. «Ich muß Ruth finden. Aber du mußt mir das Reisegeld leihen.»
Keiner wußte, was es ihn kostete, um
Geld zu bitten. Seit ihrer Ankunft in England hatten die Bergers trotz häufiger
Hilfsangebote keinen Penny von ihrem Bürgen angenommen.
«Das Geld kannst du jederzeit
haben», sagte Friedlander. «Ich leihe es dir oder ich schenke es dir, ganz wie
du willst. Die armen Engländer sind so froh und dankbar, wenn man ihnen nicht
gleich sämtliche Zähne zieht, sobald sie sich hier auf den Stuhl setzen, daß
ich mich über Patientenmangel nicht beklagen kann. Aber du bist verrückt, Kurt.
Die werden dich nicht wieder hinauslassen, und was soll dann aus Leonie werden?
Glaubst du denn, Ruth wäre mit dem, was du vorhast, einverstanden?»
«Ich kann es nicht ändern. Ich kann
einfach nicht länger untätig hier herumsitzen und warten», entgegnete Berger.
«Hast du Leonie schon gesagt, daß du
zurück willst?»
«Nein. Am Donnerstag kommt ein
großer Studententransport. Den will ich noch abwarten ...»
Leonie
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