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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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Mann und seiner Welt anzugehören. Bei Quin und
jenen, die ihn beschützten, würde sie immer sicher sein. Dafür hätte sie es
sogar auf sich genommen, in einem kalten Haus auf einem Felskap hoch im Norden
zu leben; dafür hätte sie es sogar erduldet, von seiner Tante in Ruhe gelassen
zu werden.
    Dann wurde sie sich plötzlich
bewußt, daß sie mit nichts als einem Nachthemd bekleidet mitten im Korridor
eines Zugs stand, und sie dachte daran, wie sie sich in wilder Panik in seine
Arme gestürzt, ihn schon wieder in Anspruch genommen hatte, obwohl sie es ihm
nach allem, was er für sie getan hatte, schuldete, ihn endlich nicht mehr zu
belästigen, keine weiteren Forderungen an ihn zu stellen. Wahrscheinlich dachte
er ...
    «Entschuldigen Sie, ich habe mich
wie eine dumme Gans benommen», sagte sie und riß sich ziemlich ungestüm von
ihm los. «Sie denken sicher ...»
    «Ich denke gar nichts», erklärte er,
doch ihr abrupter Rückzug hatte ihn verärgert. Glaubte sie im Ernst, er würde
die Situation ausnutzen und sich an ihr vergreifen? «Sie sollten jetzt wieder
zu Bett gehen», sagte er abrupt, und sie sah in seinem strengen Gesicht die
Bestätigung ihrer Befürchtungen. Ohne ein weiteres Wort huschte sie ins Abteil
zurück und schloß die Tür.
    Als sie am Morgen erwachte, lag er
voll bekleidet auf dem Nachbarbett, die Arme hinter dem Kopf, die Augen
geöffnet, den Blick auf das Fenster gerichtet, und betrachtete den Sonnenaufgang.
    Zwei Stunden später waren sie in
Calais. Möwen kreisten über ihnen, Dienstleute schrien an den Piers, die langen
Arme großer Kräne schwangen über ihren Köpfen hin und her. Es war eine frische
weiße Welt nach dem stickigen Luxus des Zugs.
    «Langsam glaube ich wirklich, daß
wir ankommen werden», sagte Ruth.
    «Natürlich werden wir ankommen.»
    Sie gingen an Bord. Selbst für die
kurze Überfahrt über den Kanal hatte er eine Kabine reserviert. «Sie werden
einen zweiten Pullover brauchen», sagte er und hob ihren Koffer auf den
Ständer. «An Deck ist es kalt und windig, und Sie müssen doch die Kreidefelsen
von Dover begrüßen.»
    Sie nickte und klappte den Koffer
auf. Obenauf, sorgsam verpackt, lag eine gerahmte Fotografie, die sie von zu
Hause mitgenommen, im Museum bei sich gehabt, für die geplante Flucht über die Kanderspitze und durch die Arve
in ihren Rucksack gepackt hatte. Jetzt nahm sie sie absichtlich aus ihrer
Umhüllung und reichte sie Quin. Dies war eine gute Gelegenheit, ihn wissen zu
lassen, daß sie fest an einen anderen gebunden war; ihm zu zeigen, daß sie sich
nie wieder so vergessen würde wie in der vergangenen Nacht.
    «Das ist Heini.»
    Die Aufnahme war am Tag seiner
Abschlußprüfung am Konservatorium gemacht worden. Heini, mit dunklen Locken
und hellen, langbewimperten Augen, stand an einem Bösendorfer-Flügel. Er lächelte.
Quer über die rechte untere Ecke des Bildes hatte er in spitzer deutscher
Schrift geschrieben: «Meinem kleinen Star mit aller Liebe, Heini.»
    «Und wieso nennt er Sie seinen
kleinen Star?» erkundigte sich Quin.
    Ruth erklärte. «Mozart hatte einen
Star. Er hatte ihn für vierunddreißig Kreuzer auf dem Markt gekauft und hielt
ihn in einem Käfig in seinem Zimmer. Der Gesang des Vogels hat ihn nie gestört
...» Sie erzählte die Geschichte mit leuchtenden Augen, in Gedanken bei jenem
ersten Tag, an dem Heini sie zu seinem Star erkoren hatte.
    Quin hörte höflich zu. «Und was ist
aus dem Star geworden?» fragte er, als sie zum Ende gekommen war.
    «Er ist gestorben.»
    «Kein Wunder», meinte Quin.
    «Wieso?»
    «Nun, Stare sind nun einmal keine
Käfigvögel. Aber vielleicht wußte Mozart das nicht.»
    «Mozart wußte alles», gab sie
mit blitzenden Augen zurück.
    Quin lächelte nur und ließ sie
allein. Sie zog sich einen zweiten Pullover über und machte sich auf den Weg
zum Deck. Als sie aus dem Salon erster Klasse trat, bemerkte sie zwei in Pelze
gehüllte Damen, die es sich auf Deck in Liegestühlen bequem gemacht hatten.
    «War das nicht Quinton Somerville?»
fragte die eine.
    «Ich bin ziemlich sicher, daß er es
war. Dieses markante Gesicht – unverkennbar. Ein gutaussehender Mann. Ich habe
ihn schon auf dem Bahnsteig gesehen. In Begleitung eines jungen Mädchens – so
ein unbedarftes junges Ding im Lodenmantel.»
    «Ach, du
lieber Gott! Sollte das etwas Ernstes sein?»
    «Das kann ich mir nicht vorstellen.
Sie war gar nicht sein Stil. Viel zu schlicht.»
    Ein Steward kam vorbei, und die
beiden Damen

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