Die Morgengabe
auf die Lippen.
Das Labor war in Düsternis getaucht,
doch an seinem hinteren Ende konnten sie einen hellen Schein
ausmachen – das offene, in wirren Locken vom Kopf abstehende Haar eines jungen
Mädchens. Das Mädchen selbst stand ganz vertieft über die Wand des Schafspferchs
gebeugt.
Aber nicht das leuchtende Haar,
nicht der geneigte Kopf des Mädchens waren es, die sie bannten. Es war nicht
einmal die ungewöhnliche Haltung des lauschenden Schafs. Nein, bis zur
Reglosigkeit fasziniert waren die drei stummen Beobachter von der Stimme des
Mädchens. Sie sprach ein Gedicht und sie tat es auf Deutsch.
Die deutsche Sprache war ihnen allen
bis zu einem gewissen Grad vertraut. Täglich schallte sie ihnen in Form von
Hitlers Haß- und Hetztiraden aus dem Radio entgegen. Als Wissenschaftler hatten
sie sich in allen möglichen Fachzeitschriften mit ihr abplagen müssen, immer
auf der Suche durch endlose Sätze nach einem kleinen bescheidenen Verb.
Aber das hier ... Daß das Deutsche
so weich klingen konnte, so zärtlich, so – liebevoll. Elke Sonderstrom schloß
die Augen und war wieder in dem Holzhaus am weißen Strand von Öland bei ihrer
Mutter, die Glockenblumen in einem Keramikkrug verteilte. Humphrey Fitzsimmons,
zu sehr Sproß der Oberklasse, um viel von seiner Mutter gesehen zu haben,
erinnerte sich der sanften Augen des Wasserspaniels, den er als Junge gehabt
hatte. Und Roger Felton dachte daran, daß seine Frau, deren tränenfeuchter
Blick ihm in stummem Vorwurf zu folgen pflegte, weil sie einfach nicht
schwanger wurde, früher einmal eine Schneeflocke beim Ballett von Monte Carlo
gewesen war, mit einem falschen russischen Namen und einem bezaubernden
Lächeln.
Die Stimme wurde leiser, und das
Mädchen schwieg. Dann warf sie kurz einen Blick auf ihre Uhr, wandte sich zum
Gehen – und sah sie.
«Oh, entschuldigen Sie», sagte sie
auf Englisch. «Aber ich schwöre Ihnen, ich habe es nicht angerührt – nicht
einmal mit einem Finger. Ich schwöre es bei Mozarts Kopf.»
«Es spielt keine Rolle», antwortete
Fitzsimmons, immer noch ein wenig benommen. «Wir brauchen es nicht. Es war für
einen Versuch zur Ernährung gedacht, den
die Regierung in Auftrag gegeben hatte, aber nach München wurde die Sache
abgeblasen, und die anderen Tiere sind nie hier angekommen.»
«Was war
das für ein Gedicht?» frage Elke Sonderstrom.
«Wanderers Nachtlied von Goethe. Es ist ein bißchen
traurig, aber das sind große Gedichte wahrscheinlich immer, und es ist eine Art
ländlicher Traurigkeit mit Bergen und Vogelgezwitscher und Frieden.»
Roger Felton kam wieder auf die Erde
und besann sich auf seine Rolle als Dozent und stellvertretender
Abteilungsleiter der zoologischen Fakultät, der für die Neueinschreibungen
zuständig war. «Sind Sie zufällig Miss Ruth Berger? Wenn ja, dann habe ich Sie schon
erwartet.»
Eine halbe Stunde später steckten sie in Roger
Feltons Büro mitten in den Aufnahmeformalitäten.
«Ach, das wird wunderbar!» sagte
Ruth glücklich. «Alles, was ich gern mag. Ich wollte immer schon Meeresbiologie
nehmen. In Wien gab's das nicht, weil ja kein Meer in der Nähe ist. Ich war
immer nur an der Ostsee. Da ist die Küste schnurgerade, und die Leute liegen
nackt im Sand und lesen Schopenhauer.»
Sie hob die Arme und blähte die
Wangen, um einen korpulenten Nudisten bei der Schopenhauerlektüre darzustellen.
«Schön, damit haben wir Ihre
Hauptfächer», meinte Felton. «Parasitologie, Physiologie, Meeresbiologie.
Kommen wir jetzt zu Ihrem besonderen Wahlfach. Ich nehme an, Sie werden sich
für Paläontologie entscheiden, da ja auch Ihr Vater Paläontologe ist.»
Einen Moment zögerte Ruth, und
Felton, der bereits bemerkt hatte, daß Ruth Berger nicht unbedingt zu den
großen Schweigern gehörte, sah von dem Formular auf, das er gerade ausfüllte.
«Diese Studien leitet Professor
Somerville selbst», fügte er hinzu. «Wir haben immer viel zuviele Anmeldungen,
aber ich denke, wir können Sie da schon noch hineinmogeln. Seine Vorlesungen
sind einfach brillant.»
«Kann ich sie dann belegen? Wäre das
in Ordnung?»
«Aber sicher. Wir haben auch eine
Exkursion mit Feldstudien; sie findet im allgemeinen im
Frühjahr statt, aber da der Professor weg war, haben wir sie auf den Herbst
verschoben.»
Er krauste die Stirn, weil für die
Exkursion eigentlich kein Platz mehr frei war. Den letzten hatte vor ein paar
Tagen Verena Plackett genommen. Aber Felton hatte nicht die Absicht, sich davon
bremsen zu
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