Die Morgengabe
dich
einsam», sagte Ruth und trat näher. «Aber weißt du, ich darf dich nicht
anfassen, weil du der Wissenschaft gehörst. Du bist ein Versuchstier. Du bist
so ähnlich wie eine Vestalin – Höherem geweiht.»
Das Schaf stieß mit dem Kopf gegen
die Wand seines Pferchs, dann sah es auf und blickte sie mit
goldgelben Augen an. Ruth konnte nirgends Schläuche oder andere Anzeichen
experimenteller Untersuchungen entdecken – das Schaf wirkte wohlgenährt und
schien bei ausgezeichneter Gesundheit zu sein –, aber gut gedrillt, wie sie
war, hielt sie sich dennoch von dem Tier fern.
«Ich kann mir vorstellen, daß du
viel lieber woanders wärst», fuhr sie fort, «aber da bist du nicht allein. Zur
Zeit gibt es massenhaft Leute, die lieber woanders wären. Überall in Belsize
Park, in Finchley und in Swiss Cottage könnte ich dir solche Leute zeigen. Du
gehörst einer edlen Rasse an, ich weiß, denn du kommst in den Psalmen vor, und
der heilige Franz hat dir gepredigt. Ich weiß auch, warum; weil du Augen hast,
die hören können.»
Das Schaf rammte seinen Kopf noch
heftiger gegen die Wand des Pferchs, aber sein Blöken klang längst nicht mehr
so melancholisch wie zuvor. Dann setzte es sich plötzlich, streckte ein Bein
aus und reckte den Hals wie jemand, der einem Vortrag lauscht.
«Na schön, dann sag ich dir jetzt
was von Goethe auf. Das wird dir bestimmt gefallen, er ist nämlich ein Dichter,
bei dem es meistens sehr beschaulich zugeht, manchmal vielleicht ein bißchen
schwermütig. Laß mich nachdenken, was würde dir gefallen?»
In seinem Zimmer im zweiten Stockwerk des
Naturwissenschaftlichen Baus blies Dr. Roger Felton den Inhalt einer Pipette
in einen Behälter mit Wasserschnecken und runzelte die Stirn. Eigentlich hätten
jetzt Girlanden durchscheinender Eier im Tang hängen müssen, aber das war nicht
der Fall. Natürlich konnte er sich jederzeit mehr Schnecken im Zoologischen
Garten besorgen, aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, seine eigenen Tiere
zu züchten – nicht nur für die Studenten, die seine Kurse in Meeresbiologie
besuchten, sondern weil den Opisthobranchia mit ihren erstaunlich großen
Nervenzellen sein besonderes Interesse galt.
Meerestiere aller Art – Seeigel,
Seesterne, Garnelen, Tintenfische – schwammen, krochen, schwebten in
Salzwasserbehältern, die durch ein kompliziertes System von Schläuchen und
Pumpen gekühlt und belüftet wurden. Dr. Felton liebte sein Fach und
unterrichtete es mit Leidenschaft und Begeisterung. Aber es gab Probleme, und nicht das geringste
unter ihnen war der neue Vizekanzler, der keinen Zweifel daran gelassen hatte,
daß für ihn Veröffentlichungen zählten, nicht die reine Lehrtätigkeit.
Roger Felton war sich darüber im
klaren, daß er mehr Zeit auf die Forschung verwenden sollte, aber jemand mußte
sich schließlich um die Studenten kümmern, wenn der Professor soviel unterwegs
war. Er neidete Quin seine Reisen nicht – einen Mann solchen Kalibers in der
Fakultät zu haben, war ein wahres Gottesgeschenk.
Dennoch – anstatt sich jetzt mit
seinen Schnecken zu beschäftigen, mußte er die neue Studentin empfangen, die
ihnen vom University College geschickt worden war, nachdem man dort offenbar
Mist gemacht hatte. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und zog sich Ruth
Bergers Unterlagen heran. Was die Universität von Wien da über sie schrieb, war
ja eine wahre Eloge. Sie würde, so schien es, ohne weiters im dritten Jahr
anfangen und im Sommer ihr Abschlußexamen ablegen können. Sie hatte ausgezeichnete
Noten mitgebracht, und ihr Vater war ein hervorragender Paläontologe. Selbst
wenn der Professor keine Anweisung gegeben hätte, Flüchtlinge auf jeden Fall
aufzunehmen, hätte er sich bemüht, einen Platz für dieses Mädchen zu finden.
Als es an seine Tür klopfte, blickte
er in der Erwartung auf, Ruth Berger vor sich zu sehen. Statt dessen jedoch
trat Dr. Elke Sonderstrom ein, groß, blond, mit der Figur einer Walküre. Sie
war Dozentin in Parasitologie und hatte ihr Arbeitszimmer neben dem seinen.
«Komm einen Moment mit hinunter,
Roger. Aber leise – sprich kein Wort.»
Roger Felton sah sie fragend an,
aber Elke sagte nur: «Ich bin in den Keller gegangen, weil ich die Zentrifuge
benutzen wollte, und – komm, du wirst es ja sehen.»
Verwundert folgte er ihr die zwei
Treppen hinunter. Vor dem Keller wartete Humphrey Fitzsimmons auf sie, der
lange, magere Physiologe.
«Sie ist noch da», flüsterte er und
legte einen Finger
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