Die Morgengabe
Sobald ihre Eltern aus
Indien eintrafen, teilte sie ihnen daher mit, daß sie vorhabe, den Magistergrad
zu erwerben, und daß sie das an der Thameside-Universität tun werde.
Ihre Mutter war darüber nicht
begeistert gewesen. Zwar hatte sie die Absicht gehabt, unter der Intelligenz
des Landes nach einem Ehemann für Verena Ausschau zu halten, aber doch eher
unter Nobelpreisträgern oder Mitgliedern der Royal Society und nicht gerade
unter schlichten Dozenten, die meist in zerknittertem Cord und mit stinkenden
Pfeifen daherkamen. Aber jetzt sah es ganz so aus, als hätte Verenas Instinkt
sie richtig geführt. Beschwingten Schrittes eilte sie daher in das Zimmer ihrer
Tochter hinauf.
«Verena! Ich muß dir etwas
erzählen.»
Ihre Tochter saß an ihrem ordentlich
aufgeräumten Schreibtisch. Vor sich hatte sie ein Lehrbuch mit Abbildungen und
Diagrammen, rechts lagen ein aufgeschlagenes Heft und ein Drehbleistift, links
lag ihr Lineal.
«Ja?»
Verena, die die engstehenden,
abwärts gezogenen Augen und die römische Nase ihrer Mutter geerbt hatte, sah
ohne Verstimmung über die Störung auf, obwohl sie gerade bei einem schwierigen
Kapitel angelangt war und lieber ungestört geblieben wäre.
«Ich habe eben mit deinem Vater
gesprochen, und dabei hat sich herausgestellt, daß Professor Somerville – der
Leiter der zoologischen Abteilung – Quin Somerville ist, der Eigentümer von
Bowmont. Frances Somervilles Neffe.»
«Ja, Mutter. Ich weiß.»
Ihre Mutter starrte sie an. «Du
weißt das?»
Verena nickte. «Ich habe mich
erkundigt. Deswegen habe ich mich ja für Zoologie entschieden. Er genießt einen
hervorragenden Ruf.»
Nicht zum erstenmal staunte Lady
Plackett über die Umsicht ihrer Tochter. Verena hatte den Sommer bei ihren
Verwandten in Rutland verbracht, dennoch war sie bereits besser informiert als
ihre Eltern.
«Ich werde ihn zum Essen einladen,
sobald er wieder hier ist», sagte sie. «Zusammen mit einer ausgewählten kleinen
Gruppe von Gästen. Du wirst natürlich neben ihm sitzen, damit ihr Zeit habt,
euch zu unterhalten.»
Verena wandte sich wieder ihrem Buch
zu. «Es wird mir ein Vergnügen sein», sagte sie.
Ruth ging durch das Tor der Thameside-Universität, grüßte
den Pförtner in seinem Häuschen und betrachtete mit Entzücken den gepflegten
Rasen, den alten Walnußbaum, das Standbild eines Mannes, der ausnahmsweise
einmal nicht hoch zu Roß war.
Thameside war schön. Sie wußte, daß
es eines der ältesten Bauwerke Londons war, aber diesen klösterlichen Frieden
hatte sie nicht erwartet. Blumenbeete zogen sich zu Füßen der grauen Mauern
entlang, und durch einen breiten Torbogen auf der anderen Seite des quadratischen
Hofs bot sich ein atemberaubender Blick auf die Themse und die gewaltige Kuppel
der St.-Pauls-Kathedrale auf dem anderen Ufer. Die Universität von Wien war
größer, würdevoller, aber Ruth, die an den Fenstern von Bibliotheksräumen und
Vorlesungssälen vorüberging, fühlte sich zu Hause.
Das Standbild war, wie sich zeigte,
als sie es erreichte, das des Dichters William Wordsworth. Absolut passend,
fand sie. Er hatte im Jahr 1802 auf der Westminster-Brücke gestanden und die
Worte «Nichts Schön'res hat die Erde je geseh'n» gesprochen, mit denen sie, da
sie soeben den Fluß überquert und mit eigenen Augen gesehen hatte, völlig
übereinstimmte.
Ihr Termin bei Dr. Felton war für
halb drei vereinbart. Ein Blick auf die Uhr über dem Torbogen zum Fluß zeigte
ihr, daß sie noch zehn Minuten zeit hatte. Sie wollte sich solange ans Wasser
setzen. Aber als sie sich zum Gehen wandte, hörte sie aus dem Keller des
Naturwissenschaftlichen Baus zu ihrer Linken einen Laut, der unglaublich
schwermütig klang. Sie drehte erstaunt den Kopf. Wieder vernahm sie den Laut.
Diesmal erkannte sie ihn klar. Irgendwo dort unten befand sich, offenbar tief
traurig und einsam, ein Schaf.
Sie stieg die Steintreppe hinunter,
stieß eine Tür auf und trat in ein dunkles, staubiges Labor; ein Physiologielabor,
ihr augenblicklich vertraut aus den Tagen in Wien, als sie, von den
rotglühenden Blicken von tausend weißen Ratten begleitet, durch die Tierhaltungsräume
der Universität gefahren war. Auch hier waren Ratten und die großen Behälter
mit dem gelben Mais, von dem sie sich ernährten, eine Waage, Mikroskope, eine
Zentrifuge ... und in einer Ecke, in einen hölzernen Pferch eingesperrt, stand
ein weißgesichtiges, melancholisch dreinblickendes Schaf.
«Ja, natürlich, du fühlst
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