Die Morgengabe
die gesuchte Seite hoch.
Country Life brachte in jeder Ausgabe das
Ganzfoto eines jungen Mädchens, unweigerlich Tochter aus gutem Hause und häufig
kurz vor der Heirat mit einem angemessenen jungen Mann, das den Prototyp
gediegener Upper-class-Weiblichkeit verkörperte. Hier nun war Verena
Plackett, Tochter des neuen Vizekanzlers der Thameside-Universität, zur
Vorstellung am königlichen Hof in fleischfarbenen Satin gewandet, mit einer
glitzerdurchwirkten Schleppe und Straußenfedern im Haar.
Ruth, die ihr Tablett abgestellt
hatte, wurde der erste Blick gegönnt, und sie betrachtete ihre Kommilitonin
aufmerksam. «Sie sieht intelligent aus», sagte sie.
Verena wurde herumgereicht und
schien allgemein Anklang zu finden. Ziller gefiel ihr langer Hals, von Hofmann
war entzückt von ihren Schlüsselbeinen, und Miss Maud erklärte, an ihrer Nase
hätte sie auf Anhieb erkannt, daß sie eine Croft-Ellis war. Nur Mrs. Burtt
hüllte sich in Schweigen, ließ lediglich ein kleines Schniefen hören, das
leicht dem Klassenhaß zuzuschreiben war.
Leonie jedoch sah sich das Bild am
längsten an und fragte, bevor sie nach Hause ging, ob sie sich die Zeitschrift
ausleihen dürfte.
«Ich bin kein Snob», sagte sie zu
ihrem Mann, der wissend lächelte, «aber daß Ruth nun wieder in der Welt ist, in
die sie gehört ... ach Kurt, das ist so gut.»
Erst als Ruth zu Bett gegangen war,
stellte Leonie ihr Bügelbrett auf; ihre Tochter sollte nicht wissen, wie lange
und wie billig sie arbeitete. Doch während sie sorgsam die Rüschen und Volants
an Mrs. Carters Bluse glattbügelte, summte sie eine Walzermelodie vor sich hin,
zu der sie in ihrer Jugend getanzt hatte. Und nach einer Weile stellte sie das
Eisen weg und betrachtete noch einmal eingehend Verena Placketts Gesicht.
Besonders liebenswürdig sah sie
nicht aus; aber wer war vor dem Fotografen nicht befangen? Und wenn ihre
Mundwinkel etwas abwärts hingen, so war dies vermutlich ein Familienmerkmal und
kein Zeichen von Übellaunigkeit. Ganz gleich, Hauptsache war, daß Ruth wieder
dort war, wohin sie gehörte. Die Tochter eines Vizekanzlers war genau die
passende Freundin für die Tochter eines ehemaligen Dekans der
Naturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Wien. Verena und Ruth
würden die besten Freundinnen werden – Leonie war dessen ganz sicher –, und
nichts konnte sie an diesem Abend um ihre gute Laune bringen; nicht einmal der
Geruch nach verbrannter Linsensuppe, der um Mitternacht, als die
Psychoanalytikerin aus Breslau ihr Abendessen kochte, durch das ganze Haus zog.
13
Schon wenige Tage nach Semesterbeginn
fühlte sich Ruth in Thameside völlig zu Hause. Um die Universität zu
erreichen, mußte sie zu Fuß die Waterloo-Brücke überqueren, und immer gab es
dort etwas Herzerfrischendes zu sehen: einen Lastkahn, der voll flatternder
Wäsche, die an Deck zum Trocknen aufgehängt war, unter der Brücke hindurchfuhr;
einen Schwarm kreischender Möwen, die einander die Brotbröckchen wegzuschnappen
suchten, die ihnen eine vermummte alte Frau hinwarf, die bettelarm aussah, aber
jeden Tag hier war, um ihr Brot mit den Vögeln zu teilen; einmal einen
doppelten Regenbogen hinter der St.-Pauls-Kathedrale.
«Und immer riecht es wie am Meer»,
schwärmte sie Roger Felton vor, der ihr zu einem Freund wurde. «An den Flüssen
zu Hause riecht es nicht so – aber das ist ja
klar, dazu ist das Meer viel zu weit entfernt.»
Roger Felton war ein guter Lehrer,
der die Begeisterung für sein Fach mit seinen Studenten teilte.
«Schauen Sie nur!» konnte er wie ein
kleiner Junge rufen, wenn er unter dem Mikroskop eine Traube durchscheinender
Eier eines Seesterns entdeckte oder das Flagellum, mit dessen Hilfe sich ein
unendlich kleines Körperchen durch einen Tropfen Flüssigkeit fortbewegte. Wenn
Ruth Objektträger vorbereitete und Diagramme zeichnete, befand sie sich in
einer Welt, in der es zwischen Wissenschaft und Kunst keine Grenze gab.
Aber so nett die Dozenten waren, so
interessant und aufregend die Arbeit, wirklich glücklich machten Ruth in jenen
ersten Tagen in Thameside ihre Mitstudenten. Sie arbeiteten bereits seit zwei
Jahren miteinander, aber sie nahmen sie ohne Vorbehalt und ohne Zögern unter
sich auf. Sie lernte Sam Marsh kennen, einen mageren, hochaufgeschossenen
Jungen mit ewig zerzaustem Haar und dem Gesicht einer intelligenten Ratte, der
eine Schirmmütze und einen Schal trug, um seine Solidarität mit dem Proletariat
zu demonstrieren; ferner Janet
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