Die Morgengabe
atmete sich selbst. Es war kein Wind, nein,
noch nicht, nur diese neu geschaffene, frisch gewaschene Luft, die nach Salz
und Seetang roch und dem Beginn der Schöpfung.
Es war zuviel. Zuviel Schönheit,
zuviel Luft, zuviel Himmel, zuviel Meer. Sie hatte sie sich so oft vorgestellt:
die glatte, graue, ziemlich traurige Weite der Nordsee, aber dies ...
Ein blendender Lichtstrahl fiel aus
dem Himmel herab und brach sich glitzernd an einem Leuchtturm
auf einer fernen Insel ... Es gab Felder auf diesem Meer: Flecken leuchtender
Helligkeit, andere wie mattes Blei und stille Oasen wie Lagunen. Und es befand
sich in ständiger Bewegung und Veränderung. Darauf war sie nicht gefaßt
gewesen.
Es war Ebbe. Sie zog Schuhe und
Strümpfe aus und rannte wie trunken mit bloßen Füßen über den kühlen, welligen
Sand zum Wasserrand. Allmählich beruhigte sie sich und nahm nun auch die
Bewohner dieser lichtgesprenkelten Welt wahr: drei schwere Vögel, die im Flug
von den Felsen wie drei schwarze Kreuze aussahen – Kormorane, dachte sie. Aber
die Schar schmalgeschwingter Vögel, deren Weiß so intensiv war, daß sie wie
von innen erleuchtet wirkten, konnte sie nicht benennen.
Dann kam sie zum ersten Felstümpel,
und hier warteten einfachere, leichter zu fassende Freuden. Dr. Felton hatte
sie gut unterrichtet; sie kannte die lateinischen Namen der Anemonen und
Seesterne, der kleinen Garnelen, doch dies war eine Märchenwelt. Hier gab es
Unterwasserwälder, winzige Sandbuchten, Kiesel wie Edelsteine ...
Am Meeresrand blieb sie stehen und
streckte einen Fuß ins Wasser. Sie schnappte erschrocken nach Luft. Die Kälte
traf sie wie ein elektrischer Schlag. Selbst der Gischt schien geladen ... aber
dann, beinahe sofort, gewöhnte sie sich daran. Nein, das stimmte nicht; man
konnte sich an diesen Schock eisiger Kälte und Reinheit nicht gewöhnen; man
konnte nur immer mehr davon wollen.
Das habe ich nicht gewußt, dachte
sie. Ich hätte nie geglaubt, daß etwas so sein könnte – daß es einem ein
solches Gefühl der Reinheit geben könnte ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit und
doch des Einsseins mit allem. Einen Moment lang wünschte sie all die Menschen,
die sie liebte, herbei – ihre Eltern und Mishak und Mishaks geliebte Marianne,
von den Toten auferstanden. Dann aber vollführte der Himmel eines seiner
Zauberkunststücke, sandte eine Flotte purpurfarbener Wolken aus, die vor der
neuen Sonne vorüberzogen, so daß einen Augenblick lang sich alles wieder
veränderte – unruhig, dunkel und turbulent wurde. Und dann kam die Sonne wieder
hervor, erstarkt, höher am Himmel, und sie dachte, nein, hier kann ich allein
sein, weil es kein Allein oder Nichtallein gibt; es gibt nur Licht und Luft und
Wasser, und ich bin ein Teil von allem, und alle, die ich liebe, sind Teil
davon, doch es ist außerhalb der Zeit, jenseits von Wollen und Müssen.
An diesem Punkt ekstatischer Wonne
bemerkte sie ein kleines weißes Segel und darunter ein Boot, das um das Kap
herumkam und auf die Bucht zuhielt.
Auch Quin war schon bei Tagesanbruch erwacht und zu der
geschützten Bucht von Bowmont Mill hinuntergegangen, wo er sein Boot liegen
hatte. Er war froh gewesen, diesen Vorwand zu haben, um das Haus zu verlassen
und das Boot für die Studenten um das Kap herumzusegeln; und er freute sich,
daß das Wetter aufgeklart hatte; der goldene Tag war ein unerwartetes Geschenk.
Sonst dachte er nichts, achtete nur auf den Wind, kümmerte sich um sein Segel
...
Er sah die einsame Gestalt, sobald
er das Kap umrundete, und selbst aus der Ferne erkannte er, daß die Frau, wer
immer sie sein mochte, sich in einem Zustand der Glückseligkeit befand. Der
Wind peitschte ihr Haar, mit einer Hand hielt sie ihren Rock gerafft, während
sie im Spiel mit den Wellen vorwärts und rückwärts sprang.
Die Bilder, die sich aufdrängten,
wurden bald aufgegeben. Das war nicht Botticellis Venus, die Schaumgeborene;
nicht Undine, die die Morgendämmerung willkommen hieß; es war etwas viel
Einfacheres und unter den gegebenen Umständen Überraschenderes. Es war Ruth.
Sie stand still da und sah zu, wie
er das Segel einholte und das Boot auf Sand laufen ließ. Erst als sie
hinauswatete, um ihm beim Hinaufziehen des Boots zu helfen, sprach er.
«Ein unerwartetes Vergnügen», sagte
er wie ein Idiot, doch Ruth sah die reine Erhabenheit dieser überwältigenden
Welt einen Moment lang von dem vertrauten zerknitterten Lächeln bedroht. «Ich
dachte, Sie kämen nicht mit.»
«Meine
Weitere Kostenlose Bücher