Die Morgengabe
Verena gelang,
am Stamm eines Schneeballstrauchs ein Fleckchen Baumkrebs zu entdecken, das,
wie sie meinte, Dr. Elke Sonderstrom interessieren könnte.
Dennoch konnte sie eine zunehmende
Ungeduld nicht verbergen. «Ich darf nicht zu spät zum Unterricht kommen»,
sagte sie lachend. Die Vorstellung, daß Quin Somerville bereits mit den anderen
zusammensein könnte, verdroß sie. Sie hatte fest vorgehabt, in seiner
Begleitung aufzutreten, um ihren Sonderstatus als Gast des Hauses zu
unterstreichen. «Ich muß gehen und meine Sachen holen.»
«Schön, aber dann gehen wir vorn
herum», meinte Frances, die einer kleinen Morgenschau durch ihren Feldstecher
nie widerstehen konnte.
Lady Placketts Begeisterung über den
Blick von der Terrasse aufs Meer war höchst befriedigend; Verena jedoch, die
gebeten hatte, Frances' Feldstecher einen Moment ausleihen zu dürfen, schien
aus irgendeinem Grund verstimmt.
«Wie sonderbar», sagte sie, während
sie ihren Blick auf zwei Gestalten richtete, die nebeneinander am Meeresrand
standen. Die eine war Quin Somerville, der in einem marineblauen Pullover und
Gummistiefeln ganz fremd wirkte. Die andere war eine junge Frau, barfuß, mit
flatterndem Haar. «Wenn mich nicht alles täuscht», sagte sie zu ihrer Mutter,
«hat es Miss Berger doch noch geschafft, sich an die Exkursion anzuhängen. Es
würde mich sehr interessieren, wie sie das bewerkstelligt hat.»
Lady Plackett nahm ihr den
Feldstecher aus der Hand. Sie hatte nicht so scharfe Augen wie ihre Tochter,
aber auch sie erkannte Ruth. Sie wandte sich Frances zu. «Das ist wirklich
unerfreulich», sagte sie. «Und ganz irregulär. Das Mädchen ist ein jüdischer
Flüchtling. Sie scheint zu glauben, daß ihr alle möglichen Privilegien
zustehen.»
«Ich möchte sie natürlich
keinesfalls schlechtmachen», bemerkte Verena, um Gerechtigkeit bemüht. «Sie
arbeitet sehr hart. Sie bedient in einem Café in Nord-London.»
«Und es heißt, sie lockt die Gäste
in Scharen an», warf Lady Plackest vielsagend ein.
Frances seufzte. Sie nahm ihren
Feldstecher wieder an sich, aber sie setzte ihn nicht an die Augen. Wenn es
etwas gab, das sie so früh am Morgen nicht betrachten wollte, so war es eine
jüdische Kellnerin am Strand von Bowmont.
18
Der erste Tag des praktischen Seminars wurde
traditionsgemäß am Strand von Bowmont zugebracht. Und obwohl sie alle hart
daran arbeiteten, sich die Technik der Probenentnahme zu eigen zu machen, die
sie brauchten, um hieb- und stichfeste Beobachtungen zu machen, herrschte unter
den Studenten eine Art Feiertagsstimmung. Dies war zwar wissenschaftliche
Arbeit, aber es war zugleich auch ein herrlicher Urlaub am Meer, und die
erfahrenen Dozenten versuchten gar nicht, ihr Vergnügen zu dämpfen. Ja, Dr.
Fetton sah, wie er da in den Tümpeln fischte, selbst aus wie ein Schuljunge in
den Ferien – und Elke Sonderstrom, die in Shorts und einem etwas zu knappen,
mit Rentieren bedruckten Pullover am Strand auf und ab spazierte, war ein
Anblick, der die Götter selbst erquickt hätte.
Gut so, denn Ruths Verzückung
angesichts der Küste Northumberlands dauerte an. Sie wußte, daß solcher
Überschwang nicht der britischen Art entsprach, aber dieser Zustand der Ekstase
war, so sehr sie sich auch bemühte, nicht
unter Kontrolle zu bringen. Er überwältigte sie, wenn sie sah, wie eine Welle
sich zum Licht emporschwang, als wollte sie zum Spiegel des Himmels werden; er
packte sie mit dem blendend weißen Glanz einer Möwenschwinge; er drang durch
ihre bloßen Füße in sie ein, wenn sie dem Wellengekräusel im Sand folgte. Sie
füllte ihre Taschen mit Muscheln, und als die Taschen voll waren, holte sie
ihren Toilettenbeutel und füllte den.
Und sie suchte im Sand nach
Strandgut ...
«Schaut doch mal! Schaut doch!» rief
sie alle zehn Minuten, und dann mußte der, welcher ihr gerade am nächsten war,
hingehen und den Fund begutachten, zweifellos die Planke einer gesunkenen
spanischen Galeone oder eine Kokosnuß von den fernen Westindischen Inseln. Dr.
Felton mochte vorsichtig auf die Worte «Bentham & Sohn, Installateure»
hinweisen, die sich auf der Rückseite der Planke befanden und die Theorie von
der Galeone höchst unwahrscheinlich machten; Janet mochte die Kokosnuß umdrehen
und den Stempel eines Obsthändlers aus Newcastle zeigen – für Ruth spielte das
keine Rolle. Ihr nächster Fund war genauso geheimnisvoll und magisch wie der
vorangegangene.
Verenas Zugang zu den Wonnen des
Meeresstrands war
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