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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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die eine hochherrschaftliche Treppe herunterschwebt. Sie hatte Quins
Ankunft von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtet und legte nun, schlicht,
aber gefällig in flaschengrünen Voile gekleidet, die eine Hand auf das
geschnitzte Geländer, raffte mit der anderen ihren Rock und begann, während
ihre Mutter selbstlos in den Kulissen wartete, den anmutigen Abstieg.
    Zunächst ging es glänzend. Nicht nur
der lange Rücken und die langen Beine der Croft-Ellis' begünstigten sie,
sondern auch der Drill, dem man sie vor ihrer Vorstellung bei Hof unterworfen
hatte. Verena, die ihre glitzerdurchwirkte Schleppe mit sicherem Ziel nach
rückwärts geworfen hatte, als sie vor Ihren Majestäten zurückgewichen war,
stieg jetzt mit würdevoller Grazie die Stufen zu ihrem Gastgeber hinunter.
    Sie war fast unten. Quin stand, wie
sie erwartet hatte, mit nach hinten geneigtem Kopf und ließ sie nicht aus den
Augen. Noch war sie nicht bereit, die Worte zu sagen, die sie sich überlegt
hatte, aber gleich würde es soweit sein. «Sie können sich nicht vorstellen, was
für eine Freude es ist, nach allem, was wir über Bowmont gehört haben, hier
sein zu dürfen.» So hatte sie ihre kurze, aber herzliche Rede geplant.
    Doch sie kam nicht dazu, die
wohlgesetzten Worte an den Mann zu bringen. Irgend jemand – Frances hatte das
zweite Hausmädchen in Verdacht, deren Vater ein Sozialist war – hatte nämlich
eine Tür geöffnet.
    Das Hündchen interessierte sich
eigentlich nicht für Verena, es wollte nur zu Frances, aber als es an der
Treppe vorüberflitzte, konnte es seinem Drang nach Höherem nicht widerstehen.
Mit einem entschlossenen Knurren nahm es Anlauf und sprang und schaffte es, im
selben Moment die unterste Stufe zu erklimmen, als Verena ihren hoheitsvollen
Abstieg vollendete.
    Verena trat nicht auf das Hündchen,
und sie schlug auch nicht platt hin. Das wäre jeder anderen so ergangen, nicht
aber Verena. Immerhin stolperte sie arg, warf einen Arm nach vorn, taumelte –
und fiel recht ungraziös auf die Knie.
    Quin war selbstverständlich
augenblicklich zur Stelle, um ihr aufzuhelfen und sie zu einem Sessel zu
führen, wo sie das ihr geschehene Mißgeschick sogleich herunterspielte.
    «Es ist nichts», beteuerte sie, wie
tapfere englische Mädchen das in Schulbüchern seit Generationen tun, auch wenn
der Schmerz des verstauchten Knöchels kaum auszuhalten ist.
    Dem Hündchen gegenüber Nachsicht
walten zu lassen war schwieriger, zumal sie sich bei dem Sturz das Innenfutter
ihres Kleides zerrissen hatte, und Lady Plackett, die ihrer Tochter eiligst zu
Hilfe kam, machte gar nicht erst den Versuch.
    «Was ist denn das für eine mißratene
Kreatur!» rief sie. «Gehört sie einem der Angestellten?»
    Frances, die sich zu Tode schämte,
erklärte, das Hündchen werde am folgenden Tag an den Zimmermann im Dorf
abgegeben werden, und versuchte es einzufangen. Aber Quin erhaschte den kleinen
Hund vor ihr, hielt ihn an den Hinterbeinen in die Höhe und musterte ihn mit
der Aufmerksamkeit, die Zoologen im allgemeinen einer bisher unbeschriebenen
Spezies zu zollen pflegen.
    «Erstaunlich!» sagte er und sah
seine Tante grinsend an. «Dieser Bart am Unterbauch ist bestimmt einmalig,
nicht? Weiß Barker schon von seinem Glück?»
    Frances, die seine Unbekümmertheit
gar nicht erheiternd fand, antwortete, Barker sei mit den Reparaturen der
Kirchenstühle im Verzug und würde schon wissen, was seine Pflicht sei. Dann
trug sie den Hund hinaus.
    Trotz dieses wenig verheißungsvollen
Beginns nahm das Abendessen einen erfreulichen Verlauf, und Frances
Somerville, die in der Stille ihres Schlafzimmers den Abend einer kritischen
Betrachtung unterzog, hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Vielleicht hatte
Verenas verunglückter Auftritt Quins ritterliche Instinkte geweckt, auf jeden
Fall war er den ganzen Abend über aufmerksam und charmant, und Verena verhielt
sich ganz so, wie es sich gehörte. Sie bewunderte die Porträts der Somervilles,
behauptete sogar, der Basher habe einen ausgesprochenen Charakterkopf gehabt;
sie konnte sich intelligent über die Landwirtschaft unterhalten, da ihr Onkel
in Rutland nicht nur Schafe züchtete, sondern auch hochklassige Rinderherden
besaß. Und als Frances auf bemüht scherzhafte Art erwähnte, daß Quin die
Absicht habe, Bowmont dem National Trust zu vermachen, hatten die Damen
Plackett genau mit der Ungläubigkeit und dem Entsetzen reagiert, die sie sich
erhofft hatte.
    «Das kann doch nicht Ihr Ernst

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