Die Morgengabe
Mutter und Onkel Mishak haben
mich praktisch gezwungen. Ach, aber stellen Sie sich
vor, sie hätten es nicht getan! Denken Sie nur, dann hätte ich das alles hier
nie erlebt.»
«Es gefällt Ihnen?» fragte Quin, der
es für ratsam hielt, sich auf Banalitäten zu beschränken, da sie ihn so
beunruhigend an den Traum aller heimkehrenden Seefahrer erinnert hatte: die
Frau mit den langen Haaren, die am Gestade wartet.
Sie schüttelte voll staunender
Verwunderung den Kopf. «Ich hätte nicht gedacht, daß es so etwas gibt. In der
Musik kann man sich verlieren, aber letztendlich ist sie von Menschen gemacht.
Das hier dagegen ... vielleicht kann man auch hier kleinliche Gedanken haben,
aber ich kann es mir nicht vorstellen.»
Das Boot lag jetzt sicher auf dem
Trockenen. Quin vertäute es an einem zackigen Felsbrocken, dann schlugen sie
gemeinsam den Weg zum Bootshaus ein. Ruth, die zuvor in ihrer Verzückung nicht
einen Blick landwärts geworfen hatte, blieb plötzlich wie angewurzelt stehen
und rief: «Oh, was ist denn das dort? Was ist das für ein Haus?»
«Was meinen Sie?» Quin verstand ihre
Frage nicht gleich.
«Da oben. Auf dem Felsen. Das Haus.»
«Das? Wie, das wissen Sie nicht? Das
ist Bowmont.»
Ruth hätte es im strömenden Regen
sehen können, oder im Winter, wenn es so heftig stürmte, daß niemand Zeit
hatte, aufwärts zu blicken. Sie hätte es, wie viele vor ihr, zu einer Zeit
sehen können, da ein Schiffsunglück weinende Frauen an den Strand zog, oder an
einem Tag, wenn es nur wie ein bedrohlicher dunkler Schatten hinter grauen
Nebelschleiern stand. Aber sie sah es an einem lichten, klaren Morgen, und sie
sah es praktisch vom Wasser aus, halb Wohnhaus, halb Festung. Der blasse
Kalkstein seiner Mauern war wie in Gold getaucht, und am Fuß der Felsen, die es
bewachten, spielte sanft der weiße Gischt. Möwen segelten über den Turm hinweg,
und in den hohen Fenstern spiegelte sich das blendende Licht der Sonne.
«Sie haben gesagt, es sei ein kaltes
Haus auf einem Kliff», sagte Ruth, als sie wieder sprechen konnte.
«Das ist es auch. Sie werden es
sehen, wenn Sie am Sonntag zum Mittagessen kommen.»
Ruth schüttelte den Kopf. «Nein»,
entgegnete sie leise. «Ich komme am Sonntag nicht zum Mittagessen. Und
auch an keinem .anderen Tag.»
Kenneth Easton hatte den Studenten
schließlich erzählt, daß Verena nicht mit ihnen im Bootshaus wohnen würde.
«Sie wohnt oben in Bowmont», sagte
er, als der Zug aus dem King's-Cross-Bahnhof hinausstampfte. «Die Somervilles
haben sie eingeladen.» Als die anderen ihn verblüfft anstarrten, setzte er
hinzu: «Es ist ganz natürlich – ihre Familie und die des Professors gehören
derselben Welt an. Was anderes war doch gar nicht zu erwarten.»
«Finde ich schon», widersprach Sam
energisch. «Es ist doch eigentlich überhaupt nicht Professor Somervilles Art,
jemandem eine Extrawurst zu braten.»
«Lady Plackett ist auch eingeladen.
Sie und die Tante vom Professor sind seit Ewigkeiten befreundet. Und an Verenas
Geburtstag geben sie ein Fest. Das wollten sich die Somervilles einfach nicht
nehmen lassen», berichtete Kenneth, getreulich Verenas Worte wiederholend.
Pilly und Janet fanden es nur
angenehm, nicht mit Verena unter einem Dach schlafen zu müssen, Ruth jedoch
hüllte sich in Schweigen und starrte ins flache, regenüberströmte Land hinaus.
Ihre Geschichte mit Quin war vorbei – dennoch tat es ein bißchen weh, hören zu
müssen, daß ihm Verena im Gegensatz zu dem, was er über sie gesagt hatte, doch
am Herzen lag.
Sie hatte nicht lange gebraucht, um
sich an die Kandare zu nehmen und sich vorzuhalten, wie wenig sie das anging,
aber es war ihr ernst, als sie sagte, daß sie zum Mittagessen nicht kommen
würde. Der Gedanke, Verena Plackett in einem Haus die Gastgeberin spielen zu
sehen, das ihr Heim hätte sein können, wäre dies eine richtige Ehe gewesen, war
einfach bitter. Auch die überwältigende Schönheit des Meeres konnte einen
darüber nicht hinausheben.
Pillys
Vermutungen über
Verenas Schlafanzug waren der Wahrheit am nächsten gekommen. Er war blau
und von maskulinem Schnitt, aber mit Gummibund an den Fußgelenken, denn sie
trug ihn auch bei ihren Gymnastikübungen.
Verena trieb immer mit großer
Energie Gymnastik, aber an diesem Morgen besaßen ihre Liegestütze besonderen
Schwung, und ihre Beine kreuzten die Luft mit wilder Entschlossenheit. Wenn
nämlich alles glattgehen und sie Mrs. Somerville werden sollte, so würde sie,
hatte
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