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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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anderer Art. Sie war nach dem Frühstück in einem weißen
Seemannspulli erschienen, so blütenweiß wie ihre Laborkittel, und wanderte
jetzt, begleitet von Kenneth Easton, der den Inhalt ihres Netzes so
bereitwillig in Empfang nahm wie einst den Inhalt ihres Magens, unbeirrt von
Felstümpel zu Felstümpel.
    «Sollte das eine Wandermuschel
sein?» sagte sie, zu Dr. Felton gewandt, jedoch mit einem Seitenblick auf Quin
Somerville.
    Roger Felton sah sich das Tier an,
das sie von einem Felsbrocken abgezogen hatte, und stimmte zu, worauf Kenneth
in einem Anfall spontaner Bewunderung rief: «Wirklich, Verena, bei den Zweischaligen
bist du genial.»
    Aber Verena war nicht nur bei den
Zweischaligen genial. Die anderen Studenten waren schon froh, wenn sie eine
Napfschnecke erkannten; Verena konnte ohne Mühe zwischen einer flachen
Tellerschnecke und einer gegliederten Tellerschnecke unterschei den; sie
kannte ein ganzes Arsenal von Wasserschnecken: darunter Sumpfschlammschnecken
und Ohrschlammschnecken; sie wußte, daß es von dem tapferen immergrünen
Felsblümchen, das an den höheren Felsen ein karges Leben fristete, eine
glattblättrige und eine rauhblättrige Art gab.
    In dieser Welt jedoch, die einen von
aller Kleinlichkeit reinigte, ging Ruth nicht, wie sie das in London getan
hätte, zu den Nachschlagewerken im Labor, um nach Muscheln zu suchen, die von
noch ausgefallenerer Art waren, oder um einen Borstenwurm zu entdecken, der noch
borstiger war als der, den Verena mit ihrer Schaufel aus dem Sand geholt hatte.
Sie wollte nicht über Muscheln nachlesen, sie wollte die Schalen in ihrer Hand
halten und ihre feine Zeichnung bewundern. Sie verspürte keinen Drang, sich
hervorzutun, andere zu übertreffen; sie vergaß selbst ihre ausgeklügelten
Manöver, Quin Somerville aus dem Weg zu gehen – und lief mit dem kostbarsten
Fund, den sie an diesem ersten Morgen machte, zu ihm.
    «Schauen Sie!» rief sie zum
hundertsten Mal. «Schauen Sie, Smaragde!»
    Er hielt ihr beide Hände hin, und
sie schüttete die glatten grünen Steine in sie hinein.
    «Könnten es wirklich Smaragde sein?»
fragte sie. «Meine Großtante hatte ein Smaragdarmband, und die Steine sahen
genauso aus.»
    Er lachte sie nicht aus. Es gab
Halbedelsteine an dieser Küste: Karneol, Achat, Amethyst. Sachte und behutsam
holte er sie aus ihrem Traum zurück, indem er sagte: «Das kann nur das Meer –
Steine zu solcher Glätte und Vollendung schleifen. Man könnte den besten
Juwelier der Welt beauftragen und ihm ein ganzes Jahr Zeit geben, er würde
dieser Vollkommenheit nicht einmal nahekommen.»
    Er nahm einen der Steine und hielt
ihn ans Licht, und als sie näher kam, um ihn zu betrachten, dachte er, wie gut
Smaragde sich zu ihren dunklen Augen und dem lohfarbenen Haar ausnehmen würden.
    Doch nun erschien Verena, die sich
nie weit von Quin aufhielt, an ihrer Seite. «Du meine Güte,
Ruth!» rief sie mit einem kurzen Blick aus zusammengekniffenen Augen. «Das sind
doch bloß Flaschenscherben – das mußt du doch gesehen haben. Auch in Wien wird
es wohl Flaschen geben.»
    Sie sah Quin an, um mit ihm zusammen
über Ruths Dummheit zu lachen – aber er hatte sich abgewandt und legte die
Steine so sorgsam wieder in Ruths geöffnete Hände, als handelte es sich
wirklich um kostbare Edelsteine.
    «Flaschen können eine große
Bedeutung haben», sagte er, ihr in die Augen sehend. «Das brauche ich Ihnen ja
nicht zu sagen.»
    Sie lächelte errötend und ging weg,
glücklich darüber, daß er sich erinnerte, was sie ihm damals an der Donau erzählt
hatte.
    Um die Mittagszeit kam Verena zu
Quin und sagte: «Sollten wir nicht zum Haus hinaufgehen? Soviel ich weiß, gibt
es um ein Uhr Mittagessen.»
    Sie bekam eine Abfuhr.
    «Ja, ja, gehen Sie nur hinauf. Meine
Tante legt Wert auf Pünktlichkeit. Ich bleibe hier unten – ich lasse das
Mittagessen meistens ausfallen.»
    Die Bemerkung löste bei Elke
Sonderstrom beträchtliche Erheiterung aus; sie hatte mit Quins angeblicher
Gewohnheit, das Mittagessen ausfallen zu lassen, ihre eigenen Erfahrungen
gemacht. Jetzt holte sie sich zwei Mädchen als Hilfen und kehrte mit ihnen zum
Bootshaus zurück, wo sie eine Kette Würstchen auspackte, die Pilly sogleich mit
erstaunlichem Geschick in der Pfanne zu braten begann.
    «Wieso hast du vor Würsten keine
Angst?» fragte Janet, als Pilly die bruzzelnden, fettspeienden Dinger
routiniert wendete. «Die sind doch viel gefährlicher als unsere Versuche.»
    «Würstebraten muß ich

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