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Die Morgengabe

Die Morgengabe

Titel: Die Morgengabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ibbotson
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Felsen wuchsen Ginster und Heidekraut, die Brachvögel riefen – aber
jetzt mußte hart gearbeitet werden. In diesen kohlehaltigen Felsausläufer nämlich,
der sich vom Hochmoor zum Meer hinauszog, waren jene Geschöpfe eingebettet, die
für alles nachfolgende Leben auf der Erde bestimmend gewesen waren. Bruchstücke
uralter Korallen, spiraliger Mollusken, jeweils für bestimmte geologische
Schichten bezeichnend, mußten aus dem Felsen gehauen, etikettiert, eingesackt
und ins Labor zurückgebracht werden. Und Ruth, so eifrig darauf bedacht, ein
immer besserer Mensch zu werden, war vom Glück begünstigt: Der Gelegenheiten,
Verena Plackett zu lieben, war kein Ende. Quin Somerville stets dicht auf den
Fersen, bearbeitete sie den Fels zielstrebig mit ihrem funkelnagelneuen Hammer
und hämmerte nicht nur ein versteinertes Exemplar der Familie caninia aus
dem Stein, sondern auch eine Seelilie komplett mit Armen – und lachte jedesmal
fröhlich, wenn Pilly ein Wort falsch aussprach.
    Da Flut war, machten sie im
Heidekraut über dem Strand Mittagspause, bei der das Hündchen mit belegten
Broten gefüttert wurde, in Kaninchenlöchern stöberte und dann urplötzlich
mitten auf Huws Sammelbeutel in tiefen Schlaf fiel. Die meisten der Studenten
waren ebenfalls froh, alle viere von sich strecken zu können, aber Ruth
kletterte lieber zur Höhe des Hügels hinauf, von wo sie einen weiten Blick über
die Küste und die Hochmoore hatte, über denen noch ein erikafarbener Schimmer
lag. Erst als ihr plötzlich feiner Tabakduft in die Nase wehte, merkte sie, daß
sie nicht allein war.
    «Beeindruckend, nicht?» sagte Quin
mit einer ausholenden Geste zu den flach im Wasser liegenden
Inseln im Süden und der zackigen Spitze des Howcroft Rock. «Es freut mich, daß
Sie es in dieser Stimmung sehen – im Herbst und im Winter sind die Farben am
schönsten.»
    Sie nickte, ohne etwas zu sagen. Ein
paar Minuten lang standen sie schweigend Seite an Seite und sahen zum
tiefblauen Wasser hinunter, das sich weiß schäumend an den Felsen brach. Über
ihnen rief ein Brachhuhn, und ein zarter Vanilleduft von einem spätblühenden
Ginsterbusch zog durch die Luft.
    «Als ich zum erstenmal hierher kam,
war ich gerade zehn», sagte Quin. «Ich war von Bowmont aus geradelt. Mit meinem
Hammer und meinem Fossilienbuch für Jungen. Ich fing an, ein bißchen am Stein
herumzuklopfen – und plötzlich war sie da, eine vollkommene Zikade, so klar
und unverwechselbar wie die Wahrheit selbst. Und da wußte ich plötzlich, daß
ich unsterblich bin – daß ich, ich persönlich, das Rätsel des Universums lösen
würde.»
    «Ja, das kenne ich – dieses Gefühl,
daß einem etwas bestimmt ist.»
    «Bei Ihnen war das wohl die Musik»,
sagte er und wartete resigniert darauf, daß der allgegenwärtige Mozart mit
Heini im Schlepptau wieder einmal seinen Auftritt machen würde.
    «Ja. Das erstemal, als ich die
Zillers spielen hörte. Aber ...» Sie schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, den
Grundlsee habe ich geliebt, wirklich geliebt, das Wasser, die Landschaft, die
Beeren, die Blumen, aber wenn wir dorthin gefahren sind, war das immer noch
Teil des Lebens, das ich gewöhnt war – mit denselben Menschen ... denselben
Gesprächen ... über die Universität und die Psychoanalyse und so. Aber hier,
dieser erste Morgen am Meer ... und jetzt auch noch ... ich weiß gar nicht, was
geschehen ist.» Sie sah ihn an, und er gewahrte die Verwirrung in ihrem
Gesicht. «Ich habe ein Gefühl, als würde ich mein Leben lang nach diesem Ort
hier Heimweh haben ... nach dem Meer. Aber wie ist das möglich? Was hat dieser
Platz hier mit mir zu tun? Nach Wien habe ich Heimweh. Muß ich Heimweh
haben.»
    Er schwieg so lange, daß sie den
Kopf drehte. Ihr schien, daß sein Gesicht sich verändert hatte – er sah jünger
aus, verletzlicher, und als er sprach, tat er es nicht so ruhig und gelassen
wie sonst.
    «Ruth, wenn Sie es sich anders
wünschten ... Wenn ...» Er brach ab. Ein Schatten hatte sich zwischen sie
gedrängt. Groß und nicht zu ignorieren stand Verena Plackett vor ihnen.
    «Könnten Sie mir hier einmal helfen,
Professor», sagte sie. «Meiner Ansicht nach muß dies ein Armfüßler sein, aber
ich bin mir nicht ganz sicher.»
    Danach sprachen Ruth und Quin nicht
mehr miteinander. Aber als er nach ihrer Heimkehr den Felspfad zum Haus hinaufstieg,
hörte er hinter sich Schritte, und als er sich umdrehte, sah er, daß sie ihm
nachkam, mit dem Hündchen in den

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