Die Morgenlandfahrt
nächsten Postkasten.
Dann endlich, es war schon beinahe Morgen,
drehte ich mein Licht aus, ging in die kleine Schlaf-mansarde neben meinem Wohnzimmer und legte
mich zu Bett. Ich schlief sofort ein und schlief sehr schwer und lange.
V
ANDERNTAGS, ALS ICH, NACH MEHRMALIGEM
Erwachen und Wiedereinschlummern, mit
Kopfschmerzen, aber ausgeruht wieder zu mir kam, fand ich im Wohnzimmer zu meiner unendlichen Überraschung, Freude und auch Verlegenheit Leo sitzen. Auf der Kante eines Stuhles saß er und sah aus, als warte er schon recht lange.
»Leo«, rief ich, »sind Sie gekommen?«
»Man hat mich nach Ihnen geschickt«, sagte er.
»Es ist vom Bunde. Sie haben mir ja einen Brief deswegen geschrieben, ich habe ihn den Oberen gegeben. Sie werden vom Hohen Stuhl erwartet.
Können wir gehen?«
Bestürzt beeilte ich mich, meine Schuhe anzuzie -
hen. Der unaufgeräumte Schreibtisch hatte von der Nacht her noch etwas Verstörtes und Wüstes, im Augenblick wußte ich kaum mehr, was ich vor Stunden dort so angstvoll und heftig hingeschrie -
ben hatte. Immerhin, es schien nicht umsonst gewesen zu sein. Es war etwas geschehen, Leo war gekommen.
Und plötzlich begriff ich erst den Inhalt seiner Worte. Also es gab noch einen »Bund«, von dem ich nichts mehr wußte, der ohne mich existierte und mich nicht mehr als zugehörig betrachtet hatte! Es gab noch den Bund, den Hohen Stuhl, es gab die Oberen, sie hatten nach mir geschickt!
Heiß und kalt überlief es mich bei der Nachricht.
Da hatte ich Monate und Wochen in dieser Stadt gelebt, beschäftigt mit meinen Aufzeichnungen über den Bund und unsre Fahrt, hatte nicht ge-wußt, ob und wo etwa noch Reste dieses Bundes bestünden, ob nicht vielleicht ich sein letztes Über-bleibsel sei; ja, offen gestanden war ich zu gewis-sen Stunden nicht einmal dessen sicher gewesen, ob der Bund und meine Zugehörigkeit zu ihm je -
mals Wirklichkeit gewesen seien. Und jetzt stand da Leo, abgesandt vom Bund, um mich zu holen.
Man erinnerte sich meiner, man rief mich, man wollte mich anhören, mich vielleicht zur Rechen-schaft ziehen. Gut, ich war bereit. Ich war bereit zu zeigen, daß ich dem Bunde nicht untreu geworden sei, ich war bereit zu gehorchen. Mochten die Oberen mich nun strafen oder mir verzeihen, ich war im voraus bereit, alles anzunehmen, ihnen in allem recht zu geben und Gehorsam zu leisten.
Wir brachen auf, Leo ging voran, und wieder wie vor Jahren mußte ich, wenn ich ihn und seinen Gang betrachtete, bewundern, was für ein guter, was für ein vollkommener Diener er doch sei. Ela -
stisch und geduldig lief er durch die Gassen, mir voraus, mir den Weg zeigend, ganz Führer, ganz Diener seines Auftrages, ganz Funktion. Aber dennoch stellte er meine Geduld auf keine geringe Probe. Der Bund hatte gerufen, der Hohe Stuhl erwartete mich, alles stand für mich auf dem Spiel, mein ganzes künftiges Leben würde sich entschei-den, mein ganzes gewesenes Leben würde jetzt seinen Sinn erhalten oder vollends verlieren - ich bebte vor Erwartung, vor Freude, vor Angst, vor erstickender Bangigkeit. Und so schien denn der Weg, den Leo mir voranging, meiner Ungeduld beinahe unerträglich lang, denn mehr als zwei Stunden mußte ich hinter meinem Führer gehen, auf den wunderlichsten und, wie mir schien, lau-nischsten Umwegen. Zweimal ließ mich Leo vor einer Kirche, in welcher er betete, lange warten, betrachtend blieb er und versunken eine Zeit, die mir endlos schien, vor dem alten Rathause stehen und erzählte mir von dessen Gründung im fünf-zehnten Jahrhundert durch ein berühmtes Mitglied des Bundes, und so sehr sein Gang beflissen, diensteifrig und zielbewußt zu sein schien, mir wurde doch ganz wirr vor den Umwegen, Ein-kreisungen und Zic kzackgängen, mit denen er sich seinem Ziel näherte. Man hätte den Weg, der uns den ganzen Vormittag kostete, recht wohl in einer Viertelstunde zurücklegen können.
Endlich führte er mich in eine verschlafene Vor-stadtgasse und in ein sehr großes stilles Gebäude, von außen sah es wie ein ausgedehntes Amtsge-bäude oder Museum aus. Da war zunächst weit und breit kein Mensch, Korridore und Treppen-häuser gähnten leer und dröhnten von unsern Schritten. Leo begann in den Gängen, Treppen und Vorsälen zu suchen. Einmal öffnete er behut-sam eine hohe Tür, durch die blickte man in ein vollgestopftes Maleratelier hinein, vor einer Staf-felei stand in Hemdärmeln der Maler Klingsör -
o wie viele Jahre hatte ich dies geliebte Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher